Angehörige von Hamas-Geiseln "Mein Sohn hätte heute Geburtstag, ich weiß aber nicht, ob er lebt"

Angehörige Hamas-Geiseln
Die Angehörigen der Hamas-Geiseln: Tami Braslevski, Didi Kfir, Tami Broslavsky, Herut Nimrodi und Sharone Lifschitz (nicht im Bild) mit Plakaten ihrer vermissten Familienmitglieder
© David Baum/stern
Familien deutsch-israelischer Hamas-Geiseln appellieren in Berlin, das Schicksal ihrer Angehörigen nicht zu vergessen.

Es ist ein denkwürdiger Abend in der deutschen Hauptstadt. In den Einkaufsstraßen tobt der Vorweihnachtsrummel, hinter den Fenstern der Bars und Szene-Restaurants von Berlin-Mitte kann man fröhliche Gesellschaften beobachten. Das Taxi muss einen Umweg nehmen, etwa 90 Pro-Palästina Demonstranten, darunter Greta Thunberg, blockieren den Weg. Im Autoradio wird indes vermeldet, dass israelische Einsatzkräfte gerade im Gaza-Streifen die Leiche einer deutsch-israelischen Geisel geborgen hätten. 

In den Räumen einer Polit-Agentur sitzen vier Frauen, die darauf hoffen, eine Nachricht wie diese nie zu erhalten. Tami Braslevski, Didi Kfir, Tami Broslavsky, Herut Nimrodi und Sharone Lifschitz sind die Mütter, Kinder und Angehörigen von Deutsch-Israelis, die am 7. Oktober vergangenen Jahres von Hamas-Terroristen entführt wurden. Sie hoffen, dass ihre Liebsten noch am Leben sind, wissen können sie es nicht.

Angehörige von Hamas-Geiseln gegen das Vergessen

425 Tage sind vergangenen, kein Tag davon, an dem diese Frauen nicht verzweifelt bangten, hofften – und kämpften. Natürlich würden sie das Weltgeschehen wahrnehmen, den ausufernden grausamen Krieg, den internationalen Haftbefehl, der gegenüber dem Ministerpräsidenten ihres Landes befohlen wurde. Und wie die Stimmung in Teilen der westlichen Gesellschaften zu ihren Ungunsten kippt. Und doch wirkt es, als würden sie dies alles wie durch einen Nebel sehen, sie haben nur einen einzigen Fokus, das Schicksal ihrer Familienmitglieder, die schließlich keine Schuld trügen. Die Frauen haben jene bekannten Tafeln und Plakate mitgebracht, an die sie sich förmlich klammern, sowie Smartphone-Videos und Fotos ihrer verschleppten Familienmitglieder.

Da ist zum Beispiel Tami Braslavski, die anrührend von ihrem Sohn Rom erzählt, der als Security-Kraft beim Nova-Festival im Einsatz gewesen sei, als die Hamas-Terroristen mordend über die tanzenden Jugendlichen hereinbrachen. Sie wisse aus Berichten, dass der damals 19-Jährige sich noch um Verwundete gekümmert habe, bevor ihn die Terroristen selbst schnappten. "Sie waren doch nur dort, um zu tanzen und zu lachen, um "Peace and Love" zu feiern – am Ende lagen dort Leichen". Von Überlebenden habe sie erfahren, wie sehr sich ihr Junge aufgeopfert habe, es würde sie stolz machen. "Er hat wie ein Held agiert, er war tapfer." Rom hätte sich retten können, aber er habe sich entschieden, für andere da zu sein. 

Tags darauf wird Braslavski mit einigen Mitstreitern und Sympathisanten vor dem deutschen Bundesrat stehen und zum 21. Geburtstag Romas eine Mahnwache halten. "Mein Sohn hätte heute Geburtstag, ich weiß aber nicht, ob er lebt", sagt sie. 

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Didi Kfir ist die Cousine von Arbel Yahud. Die Touristenführerin im GrooveTech-Zentrum, das sich mit Technologie und Raumfahrt beschäftigt, war zusammen mit ihrem Freund Ariel Cunio aus ihrem Haus im Kibbuz Nir Oz entführt worden. Kfir hat Videoclips mitgebracht, die Arbel als lachende junge Frau zeigen, die gerne tanzt und auf Skateboards durchs Kibbuz jagt. Sie will das unbekümmerte und positive Leben dokumentieren, das an jenem folgenschweren Tag ein Ende gefunden hat.

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Sharon Lifshitz, eine andere der Frauen, bangt um das Leben ihres Vaters. Ihre Eltern waren aus einem kleinen Kibbuz in der westlichen Negev-Wüste, etwa einen Kilometer vom Gazastreifen entfernt, entführt worden. Mutter Yehoved kam nach 17 Tagen als eine der ersten Geiseln frei, die Bilder gingen um die Welt. Das Schicksal ihres 84-jährigen Vaters ist bis heute ungewiss. "Mein Vater wurde getroffen, als die Dschihadisten durch die Tür ihres Häuschens schossen." Dennoch habe sie die Information, dass er noch leben soll. 

"Die Eltern sind Gründungsmitglieder des Kibbuz, kamen Ende der 50er mit der Idee von Zionismus, Sozialismus und Frieden." Sharon Lifshitz ist dort aufgewachsen, sie könne sich noch daran erinnern, wie sie gemeinsam Gaza besucht hätten. "Mein Vater hatte Freunde dort", sagt sie. Seit er in Rente war, habe er, der fließend Arabisch spreche, sich mindestens einmal pro Woche um Menschen aus dem Gazastreifen gekümmert, "die dort nicht medizinisch versorgt werden konnten, und sie zu israelischen Ärzten gebracht. Ich hoffe, es hilft ihm heute ein wenig", sagt sie.

Die Fronten verschwimmen in den Erzählungen der Frauen

In einem der Häuser in Gaza, in denen ihre Mutter gefangen war, hätte sie ein Zettelchen aus einem israelischen Hospital gefunden. "Vielleicht gehörte es einem der Menschen aus Gaza, die mein Vater dorthin gebracht hatte, um ihnen zu helfen", sagt sie. "Allein das zeigt, wie kompliziert und vielschichtig die Situation ist. Es macht mich verrückt, wenn Leute die Sicht auf den Konflikt vereinfachen wollen. Es ist nicht einfach." 

Herut Nimrodi, Mutter von Tamir Nimrodi, erzählt über ihren Sohn. "Er war Soldat, aber nicht, um gegen Gaza und seine Menschen zu kämpfen, sondern im Gegenteil: Tamir war Bildungsoffizier", sagt sie. Er habe es als seine Aufgabe angesehen, das Leben der Menschen in Gaza zu verbessern. Am 7. Oktober habe sie noch mit ihm telefoniert, er berichtete von Raketenangriffen, sagte aber, er würde sich gleich auf den Weg nach Hause machen. Kurz daraufhin sei er gekidnappt worden. "Ich lebe heute immer noch an diesem 7. Oktober, der zu einem Monate währenden Horrortrip geworden ist", sagt Nimrodi. 

Es gibt Bilder, die zeigen, wie ihr Sohn in Unterhemd und ohne seine Brille unter Schlägen verschleppt wurde. Sie könne diese nicht mehr sehen, sagt sie mit tränenerstickter Stimme. "Ich habe die Angst in seinem Gesicht gesehen", sagt sie und beteuert gleichzeitig, sie würde das Leid der unzähligen Opfer auf der anderen Seite, die dieser Krieg inzwischen fordert, keineswegs ausblenden: "Bloß der Hamas sind alle Menschenleben egal, auch jene in Gaza." Dies würde zu wenig beachtet. Eindringlich weist sie darauf hin, dass jede der Geiseln, deren Geschichte heute hier erzählt wird, auch deutsche Staatsbürger wären. "Heute ist es mein Sohn, morgen könnte es auch Ihrer sein", sagt sie.

Donald Trump als Hoffnungsträger

Es sind noch weitere Berichte über das Unfassbare, das an jenem Oktobermorgen geschehen ist, zu hören. Über die Monate sind diese tragischen Einzelschicksale ob der großen Gewalt, der zahllosen namenlosen Opfer, die es inzwischen zu beklagen gibt, in den Hintergrund geraten. Für diese fünf Frauen aber nicht, denn es sind ihre Söhne und Töchter, Väter und Verwandte. 

Man fühlt mit ihnen, schwerer nachzuvollziehen ist ihre Hoffnung, dass ausgerechnet Donald Trump hilfreich sein könnte. Vor wenigen Tagen hatte der designierte US-Präsident, der in Deutschland wenig Sympathien erfährt, auf seiner Plattform Truth Social gedroht, sollten die Geiseln vor seinem Amtsantritt Ende Januar 2025 nicht frei sein, würde die "Hölle losbrechen". Niemand weiß, was er damit konkret gemeint hat. Aber es zeigt, wie groß die Verzweiflung ist, wenn solche Worte zur letzten Hoffnung werden. 

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