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Deutschlands größter Schlachtbetrieb Nach umstrittener Doku: Was hat sich wirklich bei Tönnies geändert?

Erneuter Corona-Ausbruch bei Tönnies
Tönnies-Beschäftigte im Werk in Rheda-Wiedenbrück bei der Arbeit (Archivbild)
© Tönnies / DPA
In der vergangenen Woche kritisierte eine weitere Dokumentation die Lebens- und Arbeitsumstände der Produktionsmitarbeiter in Deutschlands größtem Schlachtbetrieb Tönnies. Was hat sich wirklich geändert, seit Clemens Tönnies eine "Revolution" angekündigt hat?

Vergangene Woche veröffentlichte der Sender Sat.1 eine investigative Dokumentation über die Lebens- und Arbeitsumstände der meist ausländischen Produktionsmitarbeiter der Großschlachterei Tönnies. Nicht überall wurde der Film mit Wohlwollen aufgefasst. Die Aufmachung wirkte einigen Zuschauern zu unausgewogen, der Ton tendenziös. Das Unternehmen Tönnies selbst sah sich noch vor Ausstrahlung zu einer Stellungnahme genötigt, in der "desavouierende Vorwürfe ohne Faktenbezug" bemängelt werden. Auch eine Konfrontation des Unternehmens – eigentlich journalistischer Standard – habe nicht stattgefunden. 

Zwar wirkt die Produktion in Teilen tatsächlich boulevardesk, sie wirft allerdings auch weitere Fragen auf. Im Juni 2020, nach dem Corona-Ausbruch im Werk in Rheda-Wiedenbrück, kündigte Firmenchef Clemens Tönnies an, "die Branche zu verändern." Luftfilter wurden zum Schutz vor dem Coronavirus eingebaut, die Produktionsmitarbeiter, meist aus dem osteuropäischen Ausland, mussten fest angestellt werden, da schlecht bezahlte Werkverträge über zwielichtige Subunternehmen verboten wurden.

Doch schon eine WDR-Doku vor wenigen Wochen offenbarte: noch immer arbeitet der Fleischfabrikant mit Subunternehmern zusammen. War es das also mit der "Revolution einer ganzen Branche"?

Zusammenarbeit mit Subunternehmern geht weiter

Keineswegs, erklärt Tönnies-Unternehmenssprecher Fabian Reinkemeier auf Anfrage des stern: "Die Angestellten in der Produktion sind alle fest bei uns angestellt, nicht bei Subunternehmen." Es gebe weiterhin eine Zusammenarbeit mit den ehemaligen Werkvertragsunternehmern. Diese würden allerdings nur beim Anwerben neuer Mitarbeiter etwa im osteuropäischen Ausland helfen – als Übergangslösung. "Wir wollen das mittelfristig selber machen", so Reinkemeier weiter, doch solange man das Recruiting nicht vollständig in eigener Hand habe, bräuchte das Unternehmen Experten auf diesem Gebiet. 

Laut WDR werben Unternehmer wie der Rumäne Dumitru Miculescu offensiv Menschen aus Osteuropa an – insbesondere durch die vergleichsweise hohen Löhne in Deutschland im Vergleich zu den Lohnstrukturen etwa in Rumänien oder Bulgarien. Laut Tönnies verdienen Mitarbeiter in der Produktion zwischen 9,60 Euro, dem gesetzlichen Mindestlohn, für Hilfstätigkeiten und 20 Euro für hochqualifizierte Aufgaben und somit mindestens das Dreifache von dem, was etwa in Rumänien gezahlt werde. Zudem seien diese Unternehmer für den Transport der Arbeitskräfte und die Wohnraumkontrolle zuständig, wie Clemens Tönnies im Interview mit dem WDR erklärt. 

Unterbringung der Produktionsmitarbeiter wirft weiterhin Fragen auf

Eben dieser Wohnraum sorgt immer wieder für Schlagzeilen. Schon in den 1980er Jahren dokumentierten Berichte unhaltbare Zustände in den Unterkünften von Tönnies-Mitarbeitern. Auch während des Corona-Ausbruchs im Juni 2020 wurde deutlich, wie viele Mitarbeiter auf engstem Raum wohnen, als fast 7000 Menschen in Gütersloh und Umgebung in Quarantäne mussten. All das soll der Vergangenheit angehören. Das Unternehmen habe mehrere Hundert Wohnung gekauft, saniert und vermiete diese zu festen Standards für 210 Euro pro Person und Monat. 

Das Unternehmen habe insgesamt etwa 4700 Wohnplätze frei. Damit könnten zwar weniger als 30 Prozent der Angestellten in diesen Wohnungen leben – diese Anzahl reiche aber aus. Der Rest sei, aus freien Stücken, in privaten Unterkünften eingemietet. Das sei auch der Grund für höhere Mietkosten, erklärt Reinkemeier. Der WDR veröffentlichte in seiner Dokumentation einen Mietvertrag eines Tönnies-Angestellten. Seine Miete lag bei etwa 300 Euro. Reinkemeier betont, dass es grundsätzlich persönliches Recht ist, die Miete bei privaten Vermietern abzuschließen. Man bemühe sich jedoch möglichst viele Angestellte in eigene Wohnungen zu vermitteln.

Noch immer nutzen Vermieter die Abhängigkeit der Mitarbeiter aus

Für die oftmals nicht deutschsprachigen Arbeitskräfte kann dies zum Problem werden. Denn eben jene Unternehmen, die zu höheren Preisen Wohnungen vermieten, vermitteln diese vermeintlich direkt nach Ankunft der Arbeiter in Deutschland – aus Mangel an Alternativen entscheiden sich offenbar Viele für eine solche Wohnung.

Reinkemeier betont hierzu, dies sei dann nur ein Angebot, keine Vermittlung. Auch später sei es möglich in eine günstigere Tönnies-Wohnung zu wechseln. Ob die Produktionsmitarbeiter dies tun, sei ihnen überlassen. Dies könnte Tönnies eigentlich egal sein, "genau das ist es eben nicht", so Reinkemeier. Das Unternehmen wehre sich gegen diese Unterstellung, da man sich wünsche, dass Mitarbeiter lange im Betrieb bleiben. Durch eine geringere Fluktuation habe man auch die Möglichkeit eine bessere Qualität im Betrieb zu bieten. 

Ein weiterer immer wiederkehrender Kritikpunkt verschiedener Berichte sind die Arbeitszeiten in Tönnies' Produktion. Mitarbeiter beklagten, Schichten von zehn Stunden oder sogar mehr seien keine Seltenheit, teilweise sogar gängige Praxis. Einige behaupteten sogar, dass Überstunden nicht bezahlt werden würden.

Auf die Frage, wie hoch die tatsächliche Arbeitszeit ist, antwortet das Unternehmen ausweichend. Grundsätzlich dürfe die tägliche Arbeitszeit acht Stunden nicht überschreiten, könne aber auf zehn Stunden erweitert werden, solange innerhalb von sechs Monaten oder 24 Wochen die durchschnittliche Arbeitszeit nicht höher als acht Stunden täglich betrage – dies ist gesetzlich so vorgeschrieben, dies werde auch umgesetzt. Grundsätzlich werde bei Tönnies jede Arbeitsstunde bezahlt, erklärt Reinkemeier und verweist auf die digitale Stundenerfassung im Betrieb.

Alte Strategie – neue Systeme?

Die gesamte Schlachtbranche im Allgemeinen und Tönnies im Speziellen ist spätestens nach dem Corona-Ausbruch im Juni 2020 erneut in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten. Clemens Tönnies entschied sich im Nachhinein für die Flucht nach vorn: um Entschuldigung bitten, Probleme offen ansprechen, Besserung geloben. Anderthalb Jahre nach seiner Ankündigung die "Branche zu verändern" hat sich tatsächlich das Ein oder Andere getan: durch den Mindestlohn etwa wurden die ausbeuterischen Zustände zumindest abgemildert – auch wenn hierfür der Staat und nicht Tönnies verantwortlich war. Ein häufig genutztes Wort im Hause Tönnies ist "Transformationsprozess". Fairerweise muss man einem Unternehmen zugestehen, Jahrzehnte alte Strukturen nicht von heute auf morgen ändern zu können – dies benötigt Zeit. Es sind allerdings grundsätzliche Muster, die sich kaum von denen vor 2020 unterscheiden. 

Doch statt mit windigen Subunternehmern, etwa im Bereich der Wohnungsvermittlung zusammen zu arbeiten, nennt das Unternehmen es heute Eigenverantwortung der Mitarbeitenden. Ein Jeder hat das Recht zu entscheiden, wie und wo er wohnt – das steht außer Frage. Ab wann diese Eigenverantwortung zu einem Abhängigkeitsverhältnis wird, bleibt jedoch offen.

Quellen: Sat.1-Dokumentation, Stellungnahme Tönnies, WDR-Dokumentation

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