Nach dem Amoklauf mit acht Toten in einem Königreichssaal der Zeugen Jehovas in Hamburg am Donnerstagabend ringen vier Menschen weiterhin mit dem Tod. "Wir machen uns immer noch große Sorgen um mehrere der Verletzten, die schwere Schusswunden erlitten haben und weiterhin in Lebensgefahr schweben", sagte Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) im Interview mit dem "Hamburger Abendblatt". Insgesamt wurden bei der Gewalttat acht Menschen verletzt. Vier Männer und zwei Frauen im Alter von 33 bis 60 Jahren starben, außerdem ein sieben Monate alter Fötus im Leib der Mutter. Die 33-jährige Schwangere überlebte den Angriff schwer verletzt. Nach dem Eintreffen der Polizei richtete der Amokläufer seine Pistole gegen sich selbst (lesen Sie dazu auch: "Eine Spezialeinheit der Hamburger Polizei war binnen Minuten vor Ort. Das war nicht nur Zufall").
Rat und Hilfe
Sie haben suizidale Gedanken? Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter (0800) 1110111 und (0800) 1110222 erreichbar. Auch eine Beratung über E-Mail oder Chat ist möglich. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
Inzwischen hat die Staatsschutzabteilung der Hamburger Staatsanwaltschaft die Ermittlungen zu der Tat übernommen. Das teilte die Sprecherin der Behörde, Liddy Oechtering, der "Bild"-Zeitung mit. Hintergrund sei, "dass die mutmaßliche Motivlage im Bereich religiöse Ideologie gesehen wird".
Was ist das Motiv für den Amoklauf von Hamburg?
Dass der Hintergrund des Amoklaufs mit dem Verhältnis des Amokläufers Philipp F. zu der Gemeinde der Zeugen Jehovas in Hamburg-Alsterdorf zu tun hat, vermutet auch Innensenator Grote. "Im Moment deutet alles darauf hin, dass das Motiv in der Beziehung zwischen dieser Gemeinde der Zeugen Jehovas und dem Täter als ehemaligen Mitglied dieser Gemeinde begründet liegt", sagte der SPD-Politiker weiter. F. hatte die Gemeinde vor rund anderthalb Jahren verlassen – aus welchem Grund, ist noch unklar.
Die Behördenvertreter sagten bei ihrer Pressekonferenz am Tag nach der Tat umfassende Ermittlungen zu den Hintergründen für den Amoklauf zu. Im Raum steht auch die Frage, ob die Gewalttat womöglich hätte verhindert werden können. Anfang des Jahres ging bei der Waffenbehörde ein anonymer Hinweis ein. Der unbekannte Verfasser wies darin auf psychische Probleme bei Philipp F. hin. Er hege insbesondere Wut auf die Zeugen Jehovas, hieß es in dem Schreiben. Eine ärztliche Behandlung lehne F. ab.
Zwei Beamte der Waffenbehörde, die in Hamburg bei der Polizei angesiedelt ist, haben den 35-Jährigen daraufhin Anfang Februar unangekündigt zu Hause besucht. Dabei wurden jedoch weder Verstöße bei der Lagerung von Waffe und Munition entdeckt – bis auf eine unsachgemäß gelagerte Patrone – noch auffälliges Verhalten festgestellt. Als Sportschütze besaß der nicht polizeibekannte F. seine Waffe des Typs Heckler & Koch P30 legal.
Kannte die Polizei das wirre Buch von Philipp F.?
Allerdings: Bereits eine kurze Internetrecherche zu Philipp F. lässt erhebliche Zweifel an seiner Eignung, eine Waffe führen zu dürfen, aufkommen. So veröffentlichte er Ende 2022 im Internet ein 306-seitiges Buch "The Truth About God, Jesus Christ and Satan: A New Reflected View of Epochal Dimensions", eine krude Zusammenschreibe von prophetischen Träumen, Einsichten in höhere Zusammenhänge, einem direkten Kontakt zu Gott, einer Geheimordnung. Auch die Verherrlichung Adolf Hitlers findet in dem Buch Platz. Er sei der "menschliche Vollstrecker Jesu Christi" gewesen. F. schrieb unter anderem: "Damit wird auch deutlich, dass die Judenverfolgung während der Nazizeit ein himmlischer Akt war." Allein dies dürfte bereits eine Straftat sein. Wären Ermittlungen eingeleitet worden, wäre F. mutmaßlich seine Waffe losgeworden.
Kannten die Beamten der Waffenbehörde das Buch und andere wahnhafte Schriften von Philipp F.? "Da die zeugenschaftliche Vernehmung des Hinweisgebenden aufgrund der Anonymität nicht möglich war, unternahmen die Beamten der Waffenbehörde weitere Recherchen", skizzierte Hamburgs Polizeipräsident Ralf Mayer auf der Pressekonferenz das Vorgehen seiner Mitarbeiter. "Recherchen in den polizeilichen Auskunftssystemen (...) und in öffentlich zugänglichen Quellen, bei denen sie insgesamt keine Informationen erlangten (...)."

Ob die Beamten dabei auch auf das Buch stießen, sagte Meyer nicht – und auch im Nachhinein schweigt die Hamburger Polizei dazu. "Bitte haben Sie Verständnis, dass wir nicht detailliert kommentieren, welche Informationen im Rahmen der Überprüfung des Tatverdächtigen herangezogen und wie sie bewertet wurden", antwortete die Pressestelle am Freitag auf stern-Anfrage. Man habe "keine Ergänzungen" zu den Ausführungen des Polizeipräsidenten auf der Pressekonferenz.
Die Umstände der Überprüfung von Philipp F. interessieren jetzt auch die Hamburger Landespolitik. Die Fraktion der Linkspartei in der Hamburgischen Bürgerschaft fordert den Senat auf, die offenen Fragen im Innenausschuss des Parlaments aufzuklären. "Nach den neuesten Erkenntnissen muss die Frage, ob der Amoklauf hätte verhindert werden können, neu gestellt werden. Die auf der Homepage und im Buch vertretenen kruden Thesen zeichnen das Bild eines wirren, religiösen Extremisten", sagte der innenpolitische Sprecher Deniz Çelik.
Quellen: "Bild"-Zeitung, "Hamburger Abendblatt" (kostenpflichtiger Inhalt), Nachrichtenagentur DPA