Zwillingsmädchen Lea Endlich daheim!

  • von Anette Lache
Nach einem halben Jahr in den USA leben sich Nelly und Peter Block und ihr überlebendes Zwillingsmädchen Lea wieder in Lemgo ein. Zur Trauer um Tabea kommt die Freude über ein weiteres Kind: Nelly erwartet es im März.

Die neue Wiege ist schon da. Aus Holz, gedrechselt und 100 Jahre alt. Nelly Block hat sie noch in den USA ersteigert, bei Ebay, von einem Bayern. Ein Baby soll darin schaukeln, im März 2005. Ein Geschwisterchen für Lea. "Es war nicht geplant, dass ich in dieser ohnehin schon sehr belastenden Zeit in den USA auch noch schwanger werde", sagt die 27-Jährige. "Aber Peter und ich haben uns doch sehr gefreut. Lea wird es gut tun, wenn da wieder eine andere Kinderstimme ist. So war sie es ja gewohnt, als Tabea noch bei ihr war." Tabea, ihr siamesischer Zwilling, der die Trennungsoperation in Baltimore nicht überlebt hat.

Vor zwei Wochen,

in der 26. Schwangerschaftswoche, hielt Nelly zum ersten Mal ein Ultraschallbild des kleinen Wesens in ihrem Bauch in der Hand. Weil es gerade turnte, konnte ihr die Frauenärztin in Lemgo nicht sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. "Aber zur Abwechslung wäre ein Junge ganz schön", meint Nelly, "und Peter wünscht sich sowieso einen Sohn."

In den USA ist sie nicht beim Frauenarzt gewesen. Die Trennung der Zwillinge, der Tod von Tabea, die Sorge um Lea, die Nachtwachen auf der Intensivstation - da ging die erneute Schwangerschaft erst einmal unter. "Alles drehte sich um Lea. Sie brauchte uns jede Minute", sagt Nelly. "Die Angst, dass etwas mit dem Ungeborenen sein könnte, kam eigentlich erst hier in Deutschland, als wir nicht mehr so sehr in Sorge um Lea waren", sagt Peter. "Aber es ist alles in Ordnung. Gott sei Dank!"

Mehr als sechs Monate hat die Familie aus der lippischen Kleinstadt an der amerikanischen Ostküste gelebt. In Baltimore, einer Millionenmetropole mit Wolkenkratzern, Slums und Stretchlimousinen, American Football und hoher Kriminalitätsrate. Weit weg von ihrer russlanddeutschen Großfamilie. Weit weg von ihrer mennonitischen Gemeinde. In einer Welt, die ihr bis dahin völlig fremd war - und auch fremd geblieben ist. Seit zwei Wochen sind sie wieder in Lemgo, bewohnen mit ihrer Tochter wieder ein Zimmer im Haus von Peters Eltern. "Es ist für uns das größte Glück, zu Hause zu sein", sagt der 28-Jährige.

Das Gewohnte, der Alltag ist es, was Peter und Nelly genießen. Endlich zur Ruhe zu kommen. Weihnachtsplätzchen zu essen und Lagman, den kirgisischen Eintopf mit Nudeln und Weißkohl. "Dass es uns so gut geht, überträgt sich auch auf Lea", sagt Nelly. "Sie ist längst nicht mehr so ängstlich und schreckhaft wie in Baltimore. Dort versetzten sie oft schon kleine, vorsichtige Berührungen in Panik. Die Zeit im Krankenhaus hat sich tief in ihrer Seele eingegraben."

Aber noch immer benötigt

das 16 Monate alte Mädchen viel mehr Zuwendung als gleichaltrige Kinder. Am besten geht es Lea, wenn Nelly sie auf dem Sofa im Arm schaukelt und mit ihr redet und spielt. Oder Peter sie herumträgt. Dann brabbelt und lacht sie auch schon manchmal. Doch das Weinen überwiegt immer noch. "Oft ist sie so erschöpft, dass sie nur noch wimmert", sagt Nellys Schwester Olga. "Da wird einem bewusst, wie viel sie doch durchgemacht hat." Nachts schläft Lea nur ruhig, wenn beide Eltern bei ihr sind. Nelly: "Mit ihrer rechten Hand hält sie jeden Abend Peters Ohr ganz fest, bis sie eingeschlafen ist. Sie hat immer noch Angst, dass wir sie alleine lassen könnten."

Lea ist gross geworden in dem halben Jahr in den USA. 82 Zentimeter misst sie inzwischen und wiegt fast zehn Kilo. "Nice and fat", "hübsch und fett", müsse ihre Tochter werden, hätte die Hauspflegerin in Baltimore ihnen immer gesagt. "Nicht gerade unsere Vorstellung", sagt Nelly. Lea hat die smartie-süße Schokomilch der Amerikaner, die sie unbedingt hätte trinken sollen, um auf die täglichen lebenswichtigen 1000 Kalorien zu kommen, auch energisch abgelehnt.

In den Stunden, die Lea vormittags und nachmittags schläft, ruht sich Nelly aus, wäscht Wäsche oder liest Briefe. Etwa 500 hat sie in den vergangenen Wochen bekommen, dazu Pakete mit Kuscheltieren, Puppen und Bilderbüchern. "Allen kann ich gar nicht antworten", sagt die Lehrerin. Manche Menschen schreiben ihr, dass Tabea jetzt ein Engel oder gar der persönliche Schutzengel ihrer Zwillingsschwester Lea sei. Tabea ein Engel mit eigener Wolke? Nein, so will Nelly ihre kleine verstorbene Tochter nicht sehen. In ihrer Vorstellung ist Tabea weiterhin Tabea, so wie sie sie zuletzt vor der Trennungsoperation im September gesehen hat; ein fröhliches Kind, das nichts lieber tat, als mit Nelly zu kuscheln. Das Cremedosen und Chipstüten als Spielzeug spannender fand als Teddybären und Puppen. Das seine Suppe nur aß, wenn es zwischendurch ein paar Löffel Fruchtzwerge-Quark bekam. Aber auch düstere Gedanken schiebt Nelly nicht weg, Erinnerungen an die Nacht vom 16. auf den 17. September, in der Tabeas Herz auf dem OP-Tisch aufhörte zu schlagen und die Mutter am Hospitalbett ihres toten Kindes stand. Nelly lässt Trauer zu. "Verdrängen würde alles noch schlimmer machen", sagt sie. "Der Schmerz holt mich jetzt, wo ich viel mehr Zeit zum Nachdenken habe, nach und nach ein. Ich bin noch nicht am tiefsten Punkt angekommen."

Peter ist sich sicher, dass er seine Tochter irgendwann wiedersehen wird. "Das wissen wir aus der Bibel, das ist schon ein Trost." Und an noch einen Gedanken klammert er sich: "Sie wäre, wenn sie die Trennung überlebt hätte, geistig schwerstbehindert gewesen. Dieses Wissen macht es mir leichter, ihren Tod zu ertragen." Natürlich habe er sich nach der Operation überlegt, ob der Verzicht auf das Wagnis besser gewesen wäre. "Aber ich glaube, wir mussten diesen Weg gehen. Und wenn Gott gewollt hätte, dass Tabea am Leben bliebe, dann lebte sie jetzt noch."

Auf dem Friedhof ist das Ehepaar in den ersten Tagen in der Heimat noch nicht gewesen. Auf Tabeas kleinem Grab liegen Wintergebinde - und auch Geschenke: eine Schneekugel mit einem Weihnachtsmann, ein Teddy mit einer türkisfarbenen Strickjacke und einer Trommel und ein Engel im blauen Kleid. "Symbolisch wichtig ist das Grab schon", sagt Peter. "Aber letztlich ist es nur ihr Körper, der dort liegt, nicht ihre Seele."

Am Samstag vor dem dritten Advent durfte Lea ihren ersten Ausflug machen: Nelly und Peter nahmen sie mit in das neue Bethaus der Mennoniten-Brüder- gemeinde Lemgo. Der Gottesdienst an diesem Tag war dem kleinen Mädchen gewidmet. Doch Lea streikte mit lautem Weinen, kaum dass sie mit ihrer Mutter im Gemeindesaal war. Auch der braune Plüschbär, den sie geschenkt bekam, konnte sie nicht trösten. Peter erzählte den etwa 1000 Menschen, die gekommen waren, von der "großen Reise, deren Ausgang wir uns so nicht gewünscht haben", und dankte für die vielen Gebete. Verwies immer wieder auf Gott und darauf, dass sein Vertrauen in ihn auch während der Operation nie erschüttert worden sei. Nelly weinte.

Mitte oder Ende Januar soll Nelly mit Lea für ein paar Wochen in eine Fachklinik für neurochirurgische Rehabilitation fahren. Dazu hat ihr Kinderarzt Martin Bruns geraten: "Lea braucht eine intensive Physiotherapie, damit ihre Muskulatur gekräftigt wird und die Lähmung der linken Seite weiter zurückgeht. Oft ist es so, dass Kinder in Reha-Einrichtungen noch mal einen gewaltigen Schritt nach vorne machen." Bis dahin turnen Nelly und Peter unter Anleitung der Physiotherapeutin Mathilde Koch täglich mit ihrer Tochter auf dem Küchentisch nach der Vojta-Methode, die auf den tschechischen Kinderneurologen Václav Vojta zurückgeht. "Bereits Neugeborene verfügen über einen bestimmten Vorrat an Bewegungsmustern. Mein Ziel ist es, bei Lea diese Potenziale hervorzuholen, damit sie mehr ihre linke Seite benutzt", sagt Mathilde Koch. "Um das zu erreichen, wird Druck mit der Handkante oder dem Daumen auf bestimmte Körperzonen ausgeübt."

Bisher hält Lea Plastikhandy und Mondrassel fast ausschließlich in der rechten Hand. Und wenn sie heult und strampelt, geht das rechte Bein weit hoch, das linke aber, wenn überhaupt, nur zwei, drei Zentimeter. Sie kann noch nicht allein sitzen, sich allein auf die Seite drehen oder gar krabbeln. Doch Martin Bruns ist sich sicher: "Irgendwann wird sie laufen können, alleine oder mit einer Gehhilfe."

Weniger optimistisch

ist der Lemgoer Kinderarzt, was die Augen seiner Patientin angeht. Lea greift nicht nach Spielsachen, die Nelly oder Peter ihr hinhalten, schaut niemandem hinterher, der sich von ihr wegbewegt - außer, er macht dabei Geräusche. Leas Sehzentrum wurde geschädigt, als sie nach dem plötzlichen Tod von Tabea in einer Notoperation von ihrer Schwester getrennt werden musste. Das Ausmaß der Beeinträchtigung ist noch unklar. "Die genaue Untersuchung durch einen Spezialisten und eine weitere Kernspintomografie wird es erst im Januar geben. Im günstigen Fall liegt ,nur" eine schwere Gesichtsfeldeinschränkung vor, im schlechtesten Fall eine Rindenblindheit", sagt Martin Bruns, die Unfähigkeit, Gesehenes zu erkennen. Peter und Nelly versuchen damit umzugehen. "Aber man fragt sich schon, warum muss es sein, dass sie auch nicht richtig sehen kann. Sie hat doch schon genug gelitten", sagt der Kaufmann. "Es wäre schön, wenn wir Lea später von ihrer Zwillingsschwester nicht nur erzählen, sondern ihr auch Bilder zeigen könnten", ergänzt Nelly.

Und Leas geistige Entwicklung? Bruns: "Dazu lässt sich erst in einem Jahr mehr sagen und noch mehr, wenn Lea vier oder fünf ist. Aber sie reagiert altersgemäß auf Aufforderungen. Nimmt den Schnuller aus dem Mund, wenn Nelly ihr das sagt, fasst Peter an die Nase, wenn er sie ermuntert. Das gefällt mir gut. Und wenn sie im Februar fünf Wörter sagen kann, dann ist das die normale Sprachentwicklung."

In Baltimore

haben die Blocks oft davon geträumt, wieder eine eigene Wohnung zu haben, wie in den ersten Wochen nach der Geburt der siamesischen Zwillinge. "Aber im Moment ist es besser, wenn wir hier bleiben, weil ich hier viel Hilfe von meinen Schwiegereltern habe", sagt Nelly. "Das Baby wird mich ab März sehr brauchen, aber auch Lea. Nach den vielen Wochen im Krankenhaus will ich es ihr nicht antun, sie auch mal eine Weile weinen zu lassen, wie man das vielleicht bei einem gesunden Kind machen würde."

Was Weihnachten bringt, wissen Nelly und Peter nicht. Vielleicht Tage der Trauer um Tabea. Vielleicht Stunden der Freude mit Lea. Sie werden sich erinnern an das Fest vor einem Jahr, das sie noch mit Lea und Tabea erlebten. Sie wollen wieder näher zueinander finden, denn für ihre Beziehung blieb wenig Zeit in den vergangenen Monaten. Und sie werden sich freuen auf das neue Kind.

Mitarbeit: Frank Gerstenberg

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