Der alljährliche Vogelzug ist seit Menschengedenken Quelle ungezählter Mythen und für viele auch heute noch Symbol für grenzenlose Freiheit. Doch mit jeder Alarmmeldung über Vogelgrippe wächst die Sorge, dass die Millionen Enten, Gänsen, Krähen und Watvögel bei ihrem Zug die Seuche unkontrolliert über Staatengrenzen und Kontinente hinweg verbreiten und auch nach Deutschland bringen könnten. Dabei sind - von der Öffentlichkeit weitestgehend unbeachtet - auch in Deutschland bereits die als besonders gefährlichen Viren der Typen H5 und H7 bei Untersuchungen an Zugvögeln. nachgewiesen worden. Experten warnen aber vor Panikmache.
Seuche erreicht Drehscheibe des Vogelzugs
Die Lage ändert sich derzeit täglich: Am Dienstag meldeten russische Experten, die Seuche habe als bislang westlichsten Punkt das russische Ural-Gebiet um die Metropole Tscheljabinsk erreicht. Hier wurde der Vogelgrippe-Virus H5N1 gefunden, an dem in Asien bereits mehr als 50 Menschen und Millionen Tiere starben. Am Mittwoch wurde ein Geflügelsterben aus der Hunderte Kilometer weiter westlich gelegenen Region Kalmückien gemeldet. Die russischen Behörden untersuchen derzeit den Vorfall. Die russische Gesundheitsbehörde hatte mitgeteilt, vorläufige Untersuchungen deuteten darauf hin, dass es sich nicht um den auch für Menschen gefährlichen Virus handele.
Vogelkundler betrachten das Vorrücken der Infektion nach Westen mit Sorge, denn die ursprünglichen Seuchengebiete in Asien sind aus europäischer Sicht zumindest für eine Übertragung über Zugvögel ungefährlich. Die dort lebenden Vögel ziehen in aller Regel nicht bis nach Westeuropa. Mit dem Uralgebiet, der geographischen Grenze zwischen Europa und Asien, hat die Seuche aber eine Drehscheibe des Vogelzugs auch zwischen Europa und Asien erreicht. Hier brüten oder rasten Hunderttausende Vögel, die über Russland und die osteuropäischen Staaten weiter nach Mitteleuropa ziehen und etwa in Deutschland, Österreich oder Frankreich die milden Winter verbringen. "Um diese Jahreszeit trifft sich dort Hinz und Kunz unter den Vögeln", sagt der langjährige Leiter des Max-Planck-Instituts für Ornithologie, Peter Berthold. "Einen ungünstigeren Zeitpunkt für den Ausbruch der Vogelgrippe könnte es nicht geben", urteilt der Autor zahlreicher Standardwerke zum Vogelzug. "In den nächsten Tagen und Wochen brechen von dort aus Hunderttausende Vögel Richtung Westen auf. Die russischen Kollegen beobachten die Lage hochalarmiert."
H5-Virus bereits in Deutschland nachgewiesen
Besonders kritisch sieht Berthold die Lage für Entenarten an, die anders als viele andere Vogelarten nicht auf einer Nord-Süd-Route, sondern vielfach auf Ost-West-Achsen wandern. Hinzu kommt, dass Enten sich etwa in ländlichen Gebieten am ehesten in der Nähe von Hausgeflügel aufhalten und so einen Übertragungskontakt herstellen könnten. Auch Saatkrähen aus der betroffenen Region sind wenig scheu und überwintern zu Zehntausenden in Mitteleuropa, etwa in den Großstädten Berlin oder Wien, wo einzelne Trupps beim abendlichen Flug zu ihren Schlafplätzen auf Kränen, Gebäuden oder Parkbäumen oft mehrere Hundert Tiere umfassen.
Anders als russische Experten, die den Vogelzug offiziell zur Ursache für die rasante Ausbreitung der Vogelgrippe verantwortlich machen, zögern deutsche Wissenschaftler aber mit eindeutigen Schuldzuweisungen. "Dass der Vogelzug schuld ist, ist nicht erwiesen", sagt Ortrud Werner, Wissenschaftlerin am Friedrich-Loeffler-Institut, das sich als bundeseigene Forschungsstätte für Tiergesundheit mit der Problematik befasst. Seit zwei Jahren untersucht sie auch gefangene Wildvögel auf Viren. Bei den Analysen auf der in einem wichtigen Vogelzuggebiet gelegenen Insel Riems in der Greifswalder Bucht fanden die Wissenschaftler auch schon die als besonders gefährlich geltenden H5- und H7-Viren, "allerdings in gering pathogener Ausprägung", wie Werner betont. Die betroffenen Vögel seien anhand von Ringen eindeutig als Zugvögel identifiziert worden. Die Gefahr einer Übertragung auf Menschen schätzt die Expertin als äußerst gering ein.
Illegaler Schmuggel mit Vögeln birgt Risiko
Extrem gering sei die Gefahr einer direkten Infektion über Kontakt mit Wildvögeln. "Hinzu kommt, dass durchziehende Vögel meist scheu sind und die Nähe von Menschen meiden. Zu Panik oder gar einer Verfolgungsstimmung gegen Zugvögel gibt es keinen Grund", sagt die Expertin. Von der Seuche ernsthaft befallene Vögel schafften zudem zumeist gar nicht mehr den anstrengenden Flug über Tausende Kilometer in den Westen. Eine viel ernstere Gefahr sehen sie und Berthold im illegalen Schmuggel mit Vögeln: So wurden bereits im Juli am Flughafen in Brüssel zwei Adler beschlagnahmt, die mit dem H5N1-Virus infiziert waren. Die Tiere wurden getötet. Untersuchungen aller Passagiere an Bord der Linienmaschine ergaben keine Infizierungen. "Wirksamster Seuchenschutz für Menschen ist der Kampf gegen die illegale Einfuhr meist seltener Vögel", so das Fazit von Berthold.
Für einige Vogelarten könnte die Seuche aber existenzbedrohend werden: So liegt das Überwinterungsgebiet des Schneekranichs - eines der seltensten Vogels der Welt - in einem eng umgrenzten Gebiet Asiens, das als eines der Zentren der Vogelgrippe gilt.
Die Bundesregierung hatte aufgrund der Gefahr durch Vogelgrippe die Vorsichtsmaßnahmen erhöht. Der in Bundespolizei umbenannte Bundesgrenzschutz soll das Einschleppen der Seuche bei der Einreise nach Deutschland verhindern und bei Verdachtsmomenten Einreisende isolieren.
Der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Reinhard Kurth, hat eine Grundgesetzänderung vorgeschlagen, um die Bevölkerung besser gegen die Folgen der Vogelgrippe zu schützen zu können.
Hat die Bundesregierung die Gefahr unterschätzt?
Weil die Bundesländer nicht in ausreichendem Maße virushemmende Medikamente beschafft hätten, müsse der Bund mehr Verantwortung übernehmen, forderte Kurth im ZDF. "Dazu müsste letztlich sogar das Grundgesetz geändert werden, da müssen die Länder mitspielen", sagte der Wissenschaftler. Die Bundesregierung bereitet sich unterdessen nach Worten von Verbraucherschutzministerin Renate Künast wegen der näher rückenden Vogelgrippe auf das Schlimmste vor.
"Die Länder haben sich noch nicht ausreichend vorbereitet. Die Gefahr wird unterschätzt", sagte Kurth in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Es müsse bedacht werden, dass einer Pandemie Zehntausende Menschen in Deutschland zum Opfer fallen könnten und die gesamte Wirtschaft zum Stillstand kommen könnte. Die Bundesländer hätten bislang nur für zehn Prozent der Bevölkerung virenhemmende Medikamente bestellt. Das Koch-Institut empfehle aber, Vorräte für mindestens 20 Prozent der Bevölkerung anzulegen. Das Robert-Koch-Institut ist dem Bundesgesundheitsministerium unterstellt.
Die Gefahr einer Influenza-Epedemie bewertete Kurth als ernst. "Die Gefahr einer Pandemie ist real, und das Risiko derzeit so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr."
Thomas Krumenacker/Reuters