Angela Merkel steht in der Großen Halle des Volkes, in diesem monströsen, sowjetisch anmutenden Prachtbau der chinesischen Machthaber in Peking. Gemeinsame Pressekonferenz mit Ministerpräsident Li Keqiang. Sie sagt ihre unnachahmlichen, blutleeren Kanzlerinnen-Sätze auf. Dass die deutsch-chinesischen Beziehungen tief und breit seien. Dass der Wissens- und Technologietransfer zwischen beiden Ländern weiter ausgebaut werde. Dass das Thema Industrie 4.0 wichtig bleibe. Merkel trägt ein bordeauxrotes Jackett, sie guckt aus müden Augen, ihr Mund ist ein Strich.
Kanzleralltag. Staatsbesuch.
Angela Merkel hat wieder mal eine ihrer berühmt-berüchtigten Hochgeschwindigkeitsreisen angetreten. China in knapp 40 Stunden. Neun Stunden Flug hin, elf Stunden zurück, lediglich ein paar Stunden Schlaf. Das Verhältnis zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt muss gepflegt werden. Kurz vor der Pressekonferenz hat die deutsche Seite Wirtschaftsverträge im Wert von über 18 Milliarden Euro abgeschlossen. Ein Zeichen an die Briten, die mit einer hyperaktiven China-Politik dabei sind, den Deutschen den Rang als privilegierter Partner in Europa abzulaufen.
Die Flüchtlingskrise zu Hause? Der Koalitionskrach? Das Armdrücken mit Horst Seehofer? Ach was, alles kein Grund, nicht mal schnell ans andere Ende der Welt zu düsen. Soll Seehofer ruhig die Drohung streuen, er könnte die CSU-Minister aus der Regierung zurückziehen. Merkel demonstriert mit ihrer Routine stille Überlegenheit. Mal abgesehen davon, zwei Tage China sind zwei Tage ohne Horst Seehofer. Auch im Leben einer Kanzlerin muss es doch noch so etwas wie Glück geben.
Merkel will die Welt mit anderen Augen sehen
München ist von Peking knapp 8.000 Kilometer entfernt. Man hat den Eindruck, in diesen Wochen liegen die Kanzlerin und der CSU-Chef auch gedanklich so weit auseinander.
Fern der Heimat, in China, kann man gut beobachten, was die beiden derzeit trennt. Es ist nicht nur die Frage, ob Transitzonen an der deutschen Grenze bei der Eindämmung des Flüchtlingsstroms sinnvoll sind oder nicht. Es ist der Blick aufs Ganze. Bei Seehofer endet er an der bayerischen Grenze. Bei Merkel geht er ins Offene. Hier kämpft ein Provinzpolitiker mit einer Weltkanzlerin.
Merkel ist schon das achte Mal in China. Sie kennt das Land gut, ist aber immer noch neugierig. Am Freitag wird sie ein Dorf in der Provinz Anhui besuchen. Merkel wollte schon länger das chinesische Leben jenseits der Mega-Cities wie Peking oder Shanghai kennenlernen. Endlich wird ihr der Wunsch erfüllt.
Sie möchte die Welt mit den Augen der anderen sehen. Seehofer sieht stets nur das, was er sehen will.
Arbeit mit China an Großkonflikten
Merkel hat bei ihren vielen Reisen in ihren zehn Jahren im Amt die Globalisierung mit all ihren Probleme aufgesogen. Sie hat sich von der Welt ihr eigenes Bild gemacht. Sie weiß, dass Veränderungen nicht aufzuhalten sind. Dass viele Länder ganz andere Probleme als Deutschland haben. Eine Million Flüchtlinge sind, keine Frage, eine Herausforderung für die Deutschen. Für ihre Politik wird Merkel in Peking auch Respekt gezollt. Aber die Zahl der Flüchtlinge beeindruckt hier niemanden. China kämpft mit dem Schicksal von rund 250 Millionen Wanderarbeitern.
Das Seehofer-Prinzip bedeutet: Bayern zuerst. Das Merkel-Prinzip lautet: Die Welt ist kompliziert, und alles hängt mit allem zusammen. So nutzt sie ihren China-Besuch nicht nur zur Diskussion wirtschaftspolitischer Fragen, sondern vor allem zur Arbeit an diversen Großkonflikten, die allesamt Einfluss auf den Flüchtlingsstrom nach Europa haben: der Syrienkrieg, die Destabilisierung Afghanistans, die angespannte Lage in Pakistan, die Rückkehr Irans in die internationale Gemeinschaft. Zur Lösung all dieser Fragen setzt sie auch auf den wachsenden internationalen Einfluss Chinas.
Schritt für Schritt vorgehen
Vor allem über Syrien spricht die Kanzlerin mit Präsident Xi Jinping und Premier Li Keqiang. Merkel möchte, dass China mäßigend auf seinen alten Freund Russland einwirkt und eine mögliche Verurteilung des syrischen Diktators Assad im UN-Sicherheitsrat nicht blockiert. Sie weiß, dass nur eine Befriedung Syriens den Flüchtlingsstrom nach Europa stoppen wird. Aber das braucht Zeit.
Als Horst Seehofer ihr Anfang der Woche ein Ultimatum bis Sonntag stellte, antwortete Angela Merkel spitzfindig, ja, ja, der Sonntag sei wichtig, da fänden die Parlamentswahlen in der Türkei statt, sie seien für die gemeinsame Bekämpfung der Fluchtursachen ein bedeutsames Datum. Und auf die kindischen Forderungen Seehofers, die Kanzlerin habe die Flüchtlinge nach einem Telefonat mit dem österreichischen Kanzler ins Land geholt, jetzt solle sie die Grenzen, bitte schön, mit einem Telefonat auch wieder schließen, entgegnete sie kühl: "Wir können den Schalter nicht mit einem Mal umdrehen. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen."
"Die Interessen von uns allen berühren sich hier geradezu physisch"
Donnerstag Nachmittag in der Song Qingling Residenz in Peking. Die Körber-Stiftung hat zum 160. Bergedorfer Gesprächskreis geladen. Das Thema? "Die globale Ordnung im Umbruch." Der Stargast: Angela Merkel. Sie schlägt in ihrer Rede einen großen Bogen, von Europa bis Asien, am Ende landet sie bei China und dessen Verhältnis zu Afghanistan und Pakistan. Sie sagt, dass hier auch über die Zahl der afghanischen Flüchtlinge in Deutschland entschieden werde. "Die Interessen von uns allen berühren sich hier geradezu physisch."
Am Samstag trifft sie Horst Seehofer. Krisengespräch. Da soll die Welt plötzlich wieder kleiner werden, engstirniger. Vielleicht erzählt Angela Merkel ja von ihrem Besuch in China. Der bayerische Ministerpräsident könnte etwas lernen.