Nach der Verabschiedung eines Kernelements der umstrittenen Justizreform haben in Israel wieder Zehntausende Menschen demonstriert. Bei einem Protestzug in einem Ort nördlich von Tel Aviv raste am Montagabend ein Auto in eine Menschenmenge und verletzte drei Demonstranten. Die Polizei nahm den Fahrer, dessen Motiv am Abend zunächst unklar war, später fest. Die Demonstranten hatten eine Fahrbahn blockiert.
Überall im Land störten Menschen den Verkehr. In Tel Aviv marschierten am Abend Tausende stundenlang auf einer zentralen Autobahn. Erst in der Nacht zu Dienstag gelang es der Polizei, die Menschen zu vertreiben. Medienberichten zufolge wurden landesweit am Montag mindestens 34 Demonstranten festgenommen, einige gewaltsam. Israelische Medien und Augenzeugen warfen der Polizei übermäßige Härte vor. Dutzende Menschen seien unter anderem durch den Einsatz von Wasserwerfern verletzt worden. Mindestens 13 Polizisten wurden Berichten zufolge verletzt, weil Demonstranten mit Sand gefüllte Flaschen auf sie warfen. Die Protestbewegung hatte nach dem Votum im Parlament angekündigt, ihren Protest "bis zum Ende" weiterzuführen.
So kommentiert die internationale Presse die Gefahr für Israels Demokratie:
Deutschland
Badische Zeitung: "Benjamin Netanjahus Regierung hat es in den vergangenen Monaten vermocht, den gesamten politischen Diskurs in Israel in Geiselhaft zu nehmen. Seit Monaten hat kein anderes politisches Thema mehr die Chance, diskutiert zu werden, weil die Klinge, die Netanjahus Regierung der unabhängigen Justiz angesetzt hat, alles andere überstrahlt. (…). Nicht einmal zwei Jahre ist es her, dass Israel von einer Neuwahl zur nächsten schlitterte und alle nur hofften, endlich eine Regierung mit stabiler Mehrheit zu haben. Heute sehnen sich viele danach zurück. Es reicht eben nicht, eine Regierung zu haben, wenn diese mit ihrer Verantwortung nicht umzugehen weiß."
Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der selbst über Jahre den Hass auf eine 'politisierte' Justiz schürte, ist längst zur Geisel seiner ultrarechten Koalitionspartner geworden. Und für die geht es nicht um eine sinnvolle Neujustierung des Rechtssystems, sondern um den Sieg über den Gegner, die vermeintlich linke Justiz.
Netanjahu weiß, dass sein Schicksal von den Extremisten abhängt. Die könnten seine Koalition jederzeit platzen lassen. Dann sähe es selbst für einen politischen Überlebenskünstler wie ihn düster aus. Dem Land steht also noch großes Ungemach bevor. Denn das Gesetz vom Montag war nur der Anfang der großen 'Justizreform'. Die wirklich weitreichenden Teile werden noch folgen."
Spiegel: "Diese israelische Regierung ist das Produkt verdrängter Probleme, die das Land seit seiner Gründung mit sich schleppt. Das hat Konsequenzen für die Zukunft. Denn mit dem Kampf um die Demokratie allein wird es nicht getan sein. Selbst wenn das neue Gesetz verworfen wird, die aktuelle Regierung mit ihren Plänen scheitert, zerbricht und nicht mehr wiedergewählt werden sollte, wird das allein die israelische Welt nicht wieder heil machen."
Süddeutsche Zeitung: "Die Interessen einzelner Regierungsmitglieder, die Probleme mit der Justiz hatten oder haben (wie der vor Gericht stehende Netanjahu), sind über das Gemeinwohl gestellt worden. Mit dieser historischen Entscheidung wird die Demokratie, auf die die Israelis so stolz sind, nachhaltig beschädigt und eine bereits vorhandene Spaltung der Gesellschaft verstärkt. Der ehemalige Staatspräsident Reuven Rivlin hat mit Recht vor einem Bürgerkrieg gewarnt. Aber auch diesen nimmt Netanjahu in Kauf, wie man nun weiß."
Rechtsruck nimmt die nächste Hürde: Tausende demonstrieren in Israel gegen die Justizreform

"Das Gericht verliert ein zentrales Werkzeug zur Kontrolle von Regierungspolitikern", sagte der Präsident des israelischen Demokratieinstituts, Johanan Plesner. Wichtige Positionen im Land könnten mit "Ja-Sagern" besetzt, die Generalstaatsanwältin entlassen werden. Auch die Zuweisungen von Finanzmitteln oder die Erteilung von Lizenzen für Unternehmen seien nicht mehr kontrollierbar.
Auf dem Foto: Sicherheitskräfte stehen Wache, während Demonstranten die Nationalflagge am Eingang der Knesset, dem israelischen Parlament, in Jerusalem schwenken. Bereits am Montagmorgen campierten in Jerusalem hunderte Demonstranten in Zelten vor der Knesset.
Südwest-Presse: "Es ist ein Sieg der Extremisten. Die nationalreligiöse Mehrheit im israelische Parlament hat am Montag die politischen Gewichte im Land auf gefährliche Weise verschoben und damit den demokratischen Charakter Israels nachhaltig beschädigt. … Regierungschef Benjamin Netanjahu hat sich den Hardlinern ausgeliefert. Um selbst juristisch nicht belangt zu werden, ist er auf Gedeih und Verderb auf den Fortbestand der extremistischen Regierung angewiesen. Das werden jene noch stärker zu spüren bekommen, die bisher schon die schwächste Position hatten: der arabische Teil der israelischen Bevölkerung und die Palästinenser. Es wird auf den Westen und die USA ankommen, ihre Kritik daran mit noch deutlicheren Worten zur formulieren."
Welt: "Nein, Israels Demokratie ist noch nicht abgeschafft. Gestrichen hat das Parlament eine Klausel, mit der das Oberste Gericht des Landes Entscheidungen der Regierung als "unangemessen" verwerfen kann. Noch immer hat Israels höchster Gerichtshof andere Mittel, um Regierungsvorhaben zu stoppen, etwa wenn sie nicht in Einklang mit den sogenannten Grundlagen-Gesetzen des Landes stehen. Darum ist die Angemessenheits-Klausel nicht allein entscheidend für das Überleben der Demokratie in Israel. Und diese Demokratie zeigt sich derzeit höchst lebendig."
Großbritannien
The Guardian: "In dieser Woche wird sich das Schicksal Israels als demokratischer Staat entscheiden. Die Hunderttausenden von Israelis, die ihre Häuser unter unmöglichen Umständen verlassen haben, taten dies, um zu protestieren und die Alarmglocken zu läuten, aber auch, weil sie das Bedürfnis verspürten, wenn auch nur für kurze Zeit, in einer ordentlichen, funktionierenden und wohlwollenden Atmosphäre zu leben. Ein Bedürfnis, das nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollte. Jahrzehntelang wurde es uns geraubt. Der Staat wurde zu einem Ort der Gewalt, der Vulgarität und der Verschmutzung. Die Täuschung durch Simcha Rothman (Mitglied der Knesset für die rechtsextreme Religiöse Zionistische Partei), den Justizminister Yariv Levin, den Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Benjamin Netanjahu ist letztlich nur die Unterschrift des Künstlers in der Ecke des großen Bildes."
Slowakei
Dennik N: "Eine Schwächung der Justiz kommt natürlich auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu entgegen. Der am längsten amtierende Regierungschef in der Geschichte Israels ist vor Gericht mit Vorwürfen der Korruption und des Amtsmissbrauchs konfrontiert. (...) Seit sieben Monaten setzt die Regierungskoalition die israelische Demokratie aufs Spiel und ebenso lange gehen die Menschen auf die Straße und protestieren dagegen. (...) Niemand zieht das Wahlergebnis in Zweifel, nur die Methoden der Regierung, die 64 von 120 Sitzen im Parlament hat und sich verhält, als ob ihr das ganze Land gehören würde. (...)
Die nächsten Tage werden dramatisch und gefährlich, denn die Menschen auf den Straßen sind wütend, frustriert, müde und erschöpft von Hitze und Schlafmangel. (...) Netanjahu trägt die größte Verantwortung dafür, was in Israel in den sieben Monaten seiner Kumpanei mit den stumpfsinnigsten Radikalen, Frauenverächtern, Rassisten, Homophoben und Ungebildeten geschehen ist. An so eine Schwächung Israels nach innen und außen, hervorgerufen durch die Furcht eines einzigen Politikers, dass er wegen Bestechung und Amtsmissbrauch im Gefängnis landen könnte, kann sich niemand erinnern."

Spanien
El Mundo: "Benjamin Netanjahu hat gestern beschlossen, die von seiner ultraorthodoxen und radikal-nationalistischen Regierung geplante Reform zur Beschneidung der Befugnisse des Obersten Gerichts, die einen Angriff auf die Demokratie darstellt, fortzusetzen. Das Oberste Gericht ist das einzige wirksame Gegengewicht zur Exekutivgewalt in Israel. Das Vorhaben wird weitergeführt trotz des starken politischen, sozialen, militärischen und internationalen Widerstands, auf das es seit der Ankündigung im Januar stößt. (...)
In einem Land, in dem es keine Verfassung, keinen Senat und keine föderale Struktur gibt, die ein System der gegenseitigen Kontrolle garantieren können, bedeutet dieses Vorhaben, dass die Regierung Netanjahu, gegen den ein Korruptionsverfahren läuft, de facto nach unbegrenzter Macht strebt. Die Atommacht Israel könnte damit die moralische Autorität verlieren, die einzige wirkliche Demokratie im Nahen Osten zu sein. Mit all den Gefahren, die das mit sich bringt."
USA
Wall Street Journal: "Israels Demokratie ist in Gefahr, seine Fähigkeit, sich gegen ausländische Bedrohungen zu verteidigen, schwindet, und Schlimmeres ist zu erwarten. So lautete das überzogene mediale und politische Narrativ am Montag, als der jüdische Staat eine bescheidene Justizreform verabschiedete, die wahrscheinlich nicht so viel bewirken wird, wie beide Seiten behaupten. (...)
Die Richter haben ihre weitreichenden Befugnisse bei der Ernennung von neuen Richtern nicht verloren. Das Gericht kann nach wie vor fast jeden Fall verhandeln, selbst wenn es sich um eine rein politische Frage handelt, bei der kein Kläger direkt geschädigt wurde. Das Gericht behält die in den 1990er Jahren errungene Befugnis, Gesetze zu Fall zu bringen, (...) Mit anderen Worten: Die Justiz wird nicht wirklich reformiert, und die Demokratie in Israel stirbt nicht. (...) Die israelische Justizdebatte steht auf der Liste der dringenden Probleme im Nahen Osten ganz weit unten."
Washington Post: "Wenn er (Netanjahu, d. Red.) keinen Kompromiss eingeht, sind die Risiken groß. Er gefährdet die Sicherheit Israels, zersplittert die bereits stark gespaltene Gesellschaft weiter und belastet die Beziehungen Israels zu den Vereinigten Staaten, die ihn wiederholt zu Kompromissen aufgefordert haben. Viel Schaden ist bereits angerichtet worden. Netanjahu sollte nicht noch mehr Öl in dieses Feuer gießen, sondern einen Ausweg aus der Krise finden."
Quellen: "Elmundo.es", "Faz.net", "The Guardian", "Spiegel", "Süddeutsche Zeitung", "Washington Post", "Welt".