Seit 2005 finden sich im Archiv der "New York Time" 63 Artikel in denen die Worte "Merkel, Wahl, Charisma" auftauchen. Auffällig viele haben mit Rechtspopulisten zu tun, aber in rund der Hälfte der Fälle geht es um die Kanzlerin: "Auch die Ministerpräsidenten der Länder würden den Deal akzeptieren, denn Merkel habe für deren Geschmack zu viele Fehler begangen und besitze darüber hinaus kein Charisma", heißt es etwa in einem Stück über die Union von vor 16 Jahren. Jetzt ist erneut Wahlkampf, das renommierte US-Blatt hat sich erneut auf die Suche nach Charisma begeben und ist erneut nicht fündig geworden.
Mangel an Charisma, Mangel an Führung?
"Der Wahlkampf enthüllt, wie fade die beiden Kandidaten für die Nachfolge Angela Merkels sind. Wer auch immer gewinnt, wird Europas größte Volkswirtschaft hüten, was diese Person zum wichtigsten Politiker macht. Das wiederum führt manche Beobachter zu der Frage, ob aus dem Mangel an Charisma wohl ein Mangel an Führungsstärke resultieren wird", fragt Katrin Bennhold, Autorin des 1500-Wörter-Stücks etwas besorgt. Das Aufmacherbild ihres Artikels zeigt Olaf Scholz und Armin Laschet beim Besuch der Flutgebiete – der SPD-Spitzenmann schaut bedröppelt aus Jeans und Funktionsjacke, sein CDU-Kollege trägt Kurzmantel und Lederschuhe.
Trotz Klimakrise, Corona-Pandemie, Afghanistan-Desaster und ganz generell einem jahrzehntealten Reformpfropf will der Wahlkampf 2021 nicht in Schwung kommen. Auch das TV-Triell mit Scholz, Laschet und der Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock entfachte bislang keine große Euphorie; vielleicht bekommt jedes Land auch nur die Regierungschefanwärter, die es verdient. "Es ist eine Zitterpartie nach deutscher Art: Wer sorgt am ehesten für Stabilität und Kontinuität? Oder in anderen Worten: Wer eifert Frau Merkel nach?", fragt die "NYT" trocken.
Unsere Vorliebe für Langeweiler
Die Antwort liefert das Blatt gleich mit. In einer Mischung aus Erstaunen und Belustigung beschreibt die Autorin am Beispiel von Vizekanzler Olaf Scholz die deutsche Vorliebe für den Politikertypus Langweiler. Nicht unbedingt in eigenen Worten, warum auch, schließlich hält sie als Beweis gleich diverse Kronzeugen parat. "Der beliebteste Kerl im Wahlkampf ist gleichzeitig auch der langweiligste Kerl – vielleicht sogar im ganzen Land. Gegen ihn wirkt Wasserkochen aufregend", lästert etwa der frühere US-Botschafter in Berlin, John Kornblum. Und der Oxford-Professor Timothy Garton Ash sekundiert mit den Worten: "Es gibt nur wenige Länder, die es prämieren, öde zu sein."
Natürlich kommen Texte über deutsche Befindlichkeiten nur selten ohne Bezug zum Dritten Reich und Adolf Hitler aus. Im Fall der "NYT" ist es Jan Böhmermann, der an die dunkle Vergangenheit erinnert: "Hitlers Wahlsieg hat Deutschlands Nachkriegsdemokratie auf verschiedene Weise geprägt und eine davon ist, dass Charisma aus der Politik verbannt wird", so der Komödiant. Andererseits lässt sich das für Amerikaner offenbar bemerkenswerte Faible für Sachlichkeit auch mit den Worten der Berliner Politologin Andrea Römmele beschreiben: "Ein Charakter wie Donald Trump würde hier niemals Kanzler werden."
Und wo die Autorin schon einmal dabei ist, in die Untiefen der deutschen Wählerseele abzutauchen, dürfen natürlich auch die Namen Konrad Adenauer ("Keine Experimente") und Helmut Schmidt ("Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen") nicht fehlen. Oder Markus Söder. Ihm attestiert die Zeitung "massenhaft Bierzeit-Charisma", doch leider haben ihm die Unionsleute den "Kontinuitätskandidat" Armin Laschet vorgezogen, der wiederum, welche Ironie, in Sachen Stabilität links vom Sozi von Olaf Scholz überholt wurde.
Ein Hauch von Sehnsucht
Doch beide Kandidaten kommen nicht aus dem Nichts. "Sie werden von ihren Parteigängern gewählt, die dazu tendieren, Leute auszusuchen, die so sind, wie sie selbst: Karrierepolitiker", schreibt die "NYT"-Journalistin. Zusammen mit der deutschen Vorliebe für stabile Langeweile kommen dabei Wahlkämpfer heraus, die "selbst in Zeiten, in denen die Welt kriselt, den Wählern das Gefühl geben, dass in Deutschland alles in Ordnung" sei, zitiert Katrin Bennhold den britischen Forscher Garton Ash. Ein wenig schimmert durch ihre Worte auch ein Hauch von Sehnsucht durch.
Quelle: "New York Times"