Johannes Voggenhuber nimmt all die oberbürokratischen Worthülsen mit Humor. "Entwurf eines Vertrags zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der europäischen Gemeinschaft" - so heißt das täglich umfangreicher werdende Papier, das am 18. Oktober bei einem Treffen der 27 europäischen Staats- und Regierungschefs in Lissabon verschiedet und einmal eine Art Wertekatalog für die 500 Millionen EU-Bürger darstellen soll. Ein Paragraphenwerk, das inzwischen "Reformvertrag" heißt und um dessen Klauseln derzeit bis in die kleinste Formulierung hinein erbittert gestritten wird.
Ein unleserliches Riesen-Konvolut
Voggenhuber, Europa-Parlamentarier der Grünen, nennt das Papier in seinem gegenwärtigen Zustand, ein "unleserliches Riesen-Konvolut, das man mit einer Schubkarre vorfahren muss". Das ursprüngliche Vertragswerk, die EU-Verfassung, an deren Formulierung Voggenhuber im Konvent beteiligt war, war schon ein dickes Ding; nun kommen, so rechnet der Österreicher vor, bisher allein 145 Seiten Änderungen dazu, plus 68 Seiten Protokolle, 63 Seiten Erklärungen "und wer weiß, was bis zum 18. Oktober noch obendrauf gepackt wird." Eines, so der Experte, sei jetzt schon klar: "Was da drin steht, ist vielleicht noch für ein paar Post-Graduierte verständlich, für die Bürger aber mit Sicherheit nicht."
Das Juristen-Kauderwelsch ist nicht etwa auf dem Mist der Europa-Abgeordneten oder der EU-Kommission gewachsen. Vielmehr sind es die Winkeladvokaten der nationalen Regierungen, die nun in abenteuerlichen Konstruktionen hoch komplizierte Kompromisse ausformulieren. "Die Union wird jetzt wieder von Kurfürsten regiert, die hinter verschlossenen Türen an einem Europa der Fußnoten und Fußangeln werkeln", hämt Voggenhuber und zielt damit auf all die Browns, Kaczynskis und Sarkozys, die derzeit so manches tun, um ihre eigene Nation hoch- und Europa runterzureden.
Polen und Großbritannien blocken den Prozess
Was die "Kurfürsten" da unter Umgehung des Europaparlaments anrichten, könnte sogar den gesamten Reformvertrag torpedieren, der unter deutscher EU-Präsidentschaft im Juni mit viel diplomatischem Geschick von Kanzlerin Angela Merkel ausgetüftelt wurde. "Die Gegner des Vertrags kämpfen seither mit dem Holzhammer und dem Florett", sagt süffisant Jo Leinen, Leiter des Verfassungsausschusses im Europaparlament. So nimmt der Sozialdemokrat aus dem Saarland gleichermaßen die etwas brachialere Methode der Polen als auch das etwas elegantere Vorgehen der Briten aufs Korn.
Polen geht es bislang in erster Linie um mehr Macht, Einfluss und Blockademöglichkeiten innerhalb Europas. Unter den Briten, denen man schon lange nachsagt, dass sie der Gemeinschaft nur beitraten, um sie zu verhindern, ist die Abneigung gegen den Reformvertrag noch weit fundmentaler. Als einziges Staat der EU-27 sprach sich England im Juni gegen die an den Reformvertrag gekoppelten Grundrechtecharta aus (Polen zog inzwischen nach); durchaus möglich auch, dass der Reformvertrag auf der Insel im Nachgang per Referendum abgelehnt; viele Briten würden am liebsten eine Volksabstimmung über die Grundsatzfrage abhalten, ob das Land überhaupt in der EU bleiben soll oder nicht.
Chancen für den Reformvertrag stehen 50:50
Erst vor ein paar Tagen begab sich EU-Kommissionschef José Manuel Barroso auf Goodwill-Tour nach Brighton. "In England über Europa zu sprechen", sagte er vor Parteidelegierten der Liberaldemokraten, "ist als ob man zu einem 100-Meter-Lauf antritt und plötzlich merkt, dass man sich in einem 3000-Meter-Hinderniss-Rennen befindet." Und auch der Warschau-Trip, von dem Barroso soeben zurückkehrte, war eher ein Gang nach Canossa.
Die weit überwiegende Anzahl der 785 Euro-Parlamentarier steht hinter dem Reformvertrag, auch wenn viele Abgeordnete beklagen, dass das Statut viel zu wenig bürgernah und zu sehr auf die Bedürfnisse der euroskeptischen Staaten zugeschnitten ist. "Der eigentliche Skandal ist", findet Voggenhuber, "dass die Mehrheit - immerhin 18-EU-Staaten, die bereits der EU-Verfassung zugestimmt hatten - im Moment erstaunlich leise ist, und die kleine Minderheit der ablehnenden Länder mit immer neuen Forderungen die Diskussion beherrscht."
Die Chancen, dass der Reformvertrag in Lissabon verabschiedet wird, stehen 50:50", sagt Leinen. "Wenn einzelne Staaten den Alleingang wählen und einen zu hohen politischen Preis fordern, ist ernsthaft zu überlegen, ob eine Einigung auch ohne sie möglich ist."