Afghanistan Hamid Karsai - Präsident ohne Volk

Von Christoph Reuter, Kabul
Hamid Karsai ist und bleibt der Präsident Afghanistans, doch seine Legitimität ist gründlich ruiniert. Und der Westen steht vor den Trümmern seiner Aufbauhilfe.

Wir können uns Hamid Karsai als einen glücklichen Menschen vorstellen: Während die Präsidentschaftswahlen in Afghanistan als Farce begannen und seitdem nur noch schlimmer geworden sind, und Abdullah Abdullah, der einzige Konkurrent, die Stichwahl absagte, befand der Amtsinhaber: Die Wahlen müssten jetzt erst recht durchgeführt werden! Ohne Verzögerungen!

Nach allen Erfahrungen mit Karsais Einstellung zur Demokratie lässt sich sagen: So stellt sich das Staatsoberhaupt eine gelungene Wahl vor. Er tritt an - und sonst niemand. Denn nach den tief sitzenden Traditionen eines Stammesführers ist es ein Affront, die Macht des Herrschers infrage zu stellen. Dass Karsai damit die grundlegenden Prinzipien einer Demokratie ad absurdum führt, stört ihn nicht. Nun hat er die Abkürzung gewählt und sich von der afghanischen Wahlkommission direkt zum Präsidenten küren lassen.

Die Wahlen interessierten die meisten Afghanen kaum

Aber noch einmal der Reihe nach: Seit Anfang dieses Jahres wurden die Präsidentschaftswahlen in Afghanistan vorbereitet. Sie interessierten die meisten Afghanen weit weniger als die internationale Gemeinschaft - all den Diplomaten, Militärs, Hilfsorganisationen zum Trotz, die mangels anderer guter Nachrichten gebetsmühlenartig wiederholten, wie großartig es sei, dass Afghanistan die zweiten demokratischen Präsidentschaftswahlen seiner Geschichte erleben werde.

Nach diesen Wahlen vom 20. August war den mutigen Wahlbeobachtern afghanischer und ausländischer Organisationen (und den Medien) zu verdanken, dass das Ausmaß der Wahlfälschungen zugunsten Karsais bekannt wurde. Mindestens ein Viertel der Stimmen für ihn waren gefälscht. Oft auf eine Art, die vor allem durch ihre Dreistigkeit überraschte: Da wurden Stimmzettel en bloc in die Urne geschoben, da erreichte der Amtsinhaber in einem Wahllokal weit über 100 Prozent aller Stimmen, da erzielte er überwältigende Ergebnisse in Wahllokalen, die es nie gegeben hatte.

Im ersten Wahlgang hätte es nicht gereicht

Schon Anfang September war klar, dass die rechtmäßig abgegebenen Stimmen Hamid Karsai nicht über die 50-Prozent-Marke würden heben können. Soviel Zustimmung aber hätte er gebraucht, um schon nach dem ersten Wahlgang als Gewinner dazustehen. Doch der Westen und allen voran die USA bestanden auf einen zweiten Wahlgang. Nur der Präsident selbst weigerte sich schlichtweg. Mehr als einen Monat lang. Beschwerte sich über ausländische Verschwörungen und Einmischung, drohte dem US-Sondergesandten Richard Holbrooke mit "Krieg", falls er nicht sofort gewinnen würde, ohne jedoch näher auszuführen, was er damit meinte. Erst nach massivsten Drohungen der USA war er bereit, einen zweiten Wahlgang gegen den zweitplatzierten Abdullah Abdullah am 7. November zu akzeptieren.

Um abermalige Fälschungen zu verhindern, sollten jene tausende Wahllokale geschlossen bleiben, die beim ersten Urnengang auffällig geworden waren und zudem korrupte Wahlbeamte ausgetauscht werden. Dann, am 28. Oktober, der Anschlag auf ein Gästehaus der UN in Kabul. Die Vereinten Nationen zogen daraufhin das Gros ihres Personals ab, und von all den angekündigten Verbesserungen war plötzlich keine Rede mehr.

Auch Abdullah profitierte von Wahlfälschungen

Etwa die Absetzung des Leiters der Wahlkommission sowie die temporäre Amtsniederlegung mehrere Minister, wie sie auch Herausforderer Abdullah gefordert hatte. Doch Karsai lehnte ab. Abdullah, dem die Wahlbeschwerdekommission übrigens ebenfalls rund 300.000 gefälschte Stimmen anlastet, resignierte und zog seine Kandidatur zurück.

Was tun? Für diesen Fall ist in Afghanistan kein Gesetz vorgesehen. Hat Karsai automatisch gewonnen, wie die Wahlkommission nun eilfertig beschlossen hat? Oder müsste er eigentlich abgesetzt werden zugunsten einer Interimsregierung, da er den ersten Wahlgang ja nicht gewonnen hat?

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Mit welchen beiden Gegner es der Westen zu tun hat und warum die USA Karsai zwar vors Schienbein treten, aber ihn dennoch im Amt halten wollen

Karsais Legitimität gründlich ruiniert

Mehr als 200 Millionen Euro sind für die Abstimmung ausgegeben worden, Dutzende ausländische und afghanische Soldaten kamen bei der Wahl ums Leben - nur, um am Ende mit einem Präsidenten dazustehen, dessen Legitimität gründlich ruiniert ist. Die internationale Gemeinschaft steht vor dem Bankrott ihrer Bemühungen - und das Desinteresse der meisten Afghanen, die gar nicht erst zur Wahl gingen, erscheint im Lichte der jüngsten Ereignisse verständlich. Die Ironie der Geschichte: Höchstwahrscheinlich hätte Karsai ganz ohne Fälschungen die Wahl gewonnen, wenn nicht im ersten, dann im zweiten Wahlgang. Aber überhaupt das Risiko einer Niederlage einzugehen, war ihm augenscheinlich schon zuviel.

Die internationale Gemeinschaft hat es in ihrem Bemühen, aus Afghanistan einen "richtigen" Staat zu machen, mit zwei Gegnern zu tun. Mit einem davon, der afghanischen Regierung, ist sie verbündet, denn die ist mehr mit der Plünderung des Landes als dessen Aufbau beschäftigt. Der andere Gegner, die Taliban, sind eher Symptom des Niedergangs als dessen Ursache.

Die Entwicklung Afghanistans ist seit Ende 2001 im Wesentlichen von den USA geprägt worden. Nur war es nie so recht erkennbar, was Washington eigentlich wollte: 2001 stürzte Bushs Angriff die Taliban, man installierte Hamid Karsai als Präsidenten und anschließend ein demokratisches System mit Parlament und Wahlen, in denen er 2005 bestätigt wurde. Schon damals übrigens einhergehend mit massiven Vorwürfen der Wahlfälschung.

Die Bildung von Parteien verhindert

Gleichzeitig aber verhinderten die USA mit der von ihnen gesteuerten Wahlgesetzgebung, dass sich Parteien herausbilden konnten, die eine funktionierende Demokratie erst ermöglichen würden. Die Kandidaten können nicht auf Listen antreten, sondern nur als Einzelpersonen, was die Herausbildung von Parteien erschwert - und das in einem Land, in dem mehr als die Hälfte der potenziellen Wähler eh nicht lesen kann und oft nur rudimentär über die Kandidaten informiert ist. Damals war dieses Vorgehen politisch gewollt, um zu verhindern, dass sich die Taliban politisch reorganisieren können - was sie dann eben außerparlamentarisch und mit Waffen getan haben.

So stand auch bei der letzten Wahl im August hinter den Namen aller vier Favoriten ein "mustaqil" - ein "unabhängig". Nicht einmal Hamid Karsai hat eine Partei gegründet. Allianzen werden weiterhin nach Stammeszugehörigkeit, Ethnie, Konfession gebildet.

Obama schätzt Karsais korruptes Regime nicht

Anfang des Jahres wurde spürbar, dass Obama das korrupte Regime in Kabul nicht so schätzte wie George W. Bush dies getan hatte. Plötzlich erschienen kritische Zitate amerikanischer Offiziere, Berichte über die Drogengeschäfte von Karsais Verwandtschaft sowie die gern kolportierte Szene von einem Abendessen des neuen US-Vizepräsidenten Joe Biden mit dem afghanischen Präsidenten, bei dem Biden mittendrin aufstand und ging, weil er Karsais Lügen leid war. Man wäre ihn gerne los, so die unterschwellige Botschaft.

Aber man tat nichts dafür. Kein aussichtsreicher Gegenkandidat wurde unterstützt, den sichtbaren Vorbereitungen zur Wahlfälschung durch Karsais handverlesene "Unabhängige Wahlkommission" kein Riegel vorgeschoben. Man trat ihm ein bisschen vors Schienbein, aber ließ gleichzeitig durchblicken, ihn weiterhin als Präsidenten akzeptieren zu wollen.

Wozu nun stehen rund 100.000 ausländische Soldaten, darunter 4200 deutsche, in Afghanistan, wozu wird das Land mit Milliarden unterstützt, während die Taliban mancherorts zu verdrängen, aber nicht zu besiegen sind? Um eine völlig unfähige Regierung zu unterstützen, an deren Spitze ein Präsident steht, der Wahlen als persönliche Beleidigung empfindet und dessen Brüder das größte Drogenkartell des Landes unterhalten? Nick Horne, ein Diplomat von Unama, der UN-Mission für Afghanistan, trat jüngst zurück, weil er alle Bemühungen für gescheitert hält und keine internationale Strategie mehr erkennen kann: "Clausewitz hat gesagt, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Das Problem ist: Nun haben wir Krieg - aber gar keine Politik."

Regierung verspricht das Ende der Korruption

Wie zur Bestätigung traten in den vergangenen Tagen nun die Weltpolitiker wie US-Außenministerin Hillary Clinton oder Großbritanniens Premier Gordon Brown vor die Kameras, und sehen alles auf einem guten Weg: "Präsident Karsai hat mir versprochen, dass er eine neue Regierung aufbauen werde, die frei ist von Korruption", sagte Brown. Ebenso gut hätte er versprechen können, dass die Erde eine Scheibe ist.