Ein Nieselregenmorgen neulich in Washington, es ist kurz nach sieben Uhr Morgens. Bruce Riedel sitzt im Auto, ständig klingelt das Telefon, schon wieder schlechte Nachrichten. Die Lage in Afghanistan verschlechtert sich. Die Ereignisse mit den Deutschen in Kundus, die offenbar gefälschten Präsidentschaftswahlen, und jetzt meldet auch noch ein demokratischer Senator Zweifel an Obamas Afghanistan-Politik an.
Eigentlich müsste Bruce Riedel, 56, schlechte Nachrichten gewohnt sein: 29 Jahre arbeitete der Experte für "Counterinsurgency", Aufstands-Bekämpfung, bei der CIA und im Nationalen Sicherheitsrat. Früh hatte er sich auf Pakistan und al Kaida spezialisiert. Er ist einer der wenigen Experten im Land, ein bedächtiger, höflicher Mann, mit Nickelbrille, stets hochkonzentriert.
So etwas wie Obamas oberster Afghanistan-Stratege
Heute ist Bruce Riedel für die hochkarätige Brookings-Stiftung unter die Politikforscher gegangen. In Wahrheit aber ist er so etwas wie Obamas oberster Afghanistan-Stratege. Denn Riedel leitete die hochkarätig besetzte Arbeitsgruppe, die nach Obamas Amtsantritt zwei Monate lang über einer neuen Strategie brütete. Heraus kam ein trockenes, beinahe nichtssagendes Kürzel: "Af-Pak". Eine Strategie für Afghanistan und Pakistan.
"Wir mussten buchstäblich auf den Neustart-Knopf drücken, sagt Riedel zu stern.de. "Denn um es offen zu sagen: Obama erbte ein Desaster. Bush hatte diesen Krieg mehr als sieben Jahre lang sträflich vernachlässigt, er wollte Krieg, aber möglichst billig. Jetzt zerfällt das Land vor unseren Augen, die Taliban machen den Norden zum Kampfgebiet. Die Lage könnte nicht ernster sein."
Es scheint, als müsse Amerika diesen Krieg noch einmal von vorne beginnen.
Abhilfe in letzter Minute leisten
Nun soll "Af-Pak" quasi in letzter Minute Abhilfe leisten, die Wende erzwingen. Aus drei Teilen bestehe die Obama-Strategie, erklären die Experten. Erstens solle nun Pakistan endlich stabilisiert werden. Ohne Pakistan gäbe es keine Lösung für Afghanistan, heißt es. Zweitens sollen Regierung, Verwaltung und wirtschaftlicher Wiederaufbau miteinander verzahnt werden. "Integration" heißt das. Dabei habe man von den Europäern gelernt, auch von den Deutschen. Vor allem aber: Man müsse den Afghanen rasch die Verantwortung für ihr eigenes Land übertragen. Und dies erfordere den massiven Ausbau von Polizei und Armee.
Denn auch die USA suchen eine "Exit-Strategie". Einen Weg raus aus Afghanistan. Und zwar so, dass Afghanistan nicht im Chaos versinkt. Dass man den Abzug der Truppen als Erfolg darstellen kann. Und auch so, dass man wiedergewählt wird. Etwa bei den Präsidentschaftswahlen.
Ehrgeizige und ambitionierte Realpolitik
So klingt die neue Realpolitik à la Obama, ehrgeizig und ambitioniert. 21.000 zusätzlicher Soldaten schickt Obama bis Ende des Jahres nach Afghanistan, investiert Milliarden. Er will Tausende Zivilisten schicken, Wiederaufbauhelfer. Seine besten Militärs, die Generäle David Petraeus und Stanley McChrystal hat er zu Oberaufsehern über den Krieg gemacht und ihnen zugleich die Koordination des zivilen Wiederaufbaus übertragen.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Der erste Test hat bereist begonnen, nächstes Ziel ist die Schaffung von "Öl-Flecken".
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"Clear, hold, build" lautete der Befehl
Vor zwei Monaten begann die US-Offensive "Dolch" in der Taliban-Hochburg und Drogenprovinz Helmand, ein erster Test. 4000 Marines versuchen dort, Af-Pak anzuwenden. "Clear, hold, build" lautet ihr Befehl: Säubern, halten, aufbauen. Es ist der amerikanische Versuch, Herzen und Köpfe der Bevölkerung zu erobern, in Zweifel mit harten US-Dollars. Und natürlich verhandeln sie dabei auch mit Taliban-Gruppen, die man als "gemäßigt" bezeichnet.
So sollen Dörfer, Landstriche, später vielleicht Provinzen lebensfähig, gar lebenswert gemacht werden. Sollen "Oil Spots" entstehen, sich ausbreiten. "Öl-Flecken" - so nennen Experten für Aufstandsbekämpfung jene kleinen Inseln der Stabilität, auf denen sich Menschen einigermaßen sicher fühlen sollen. Dort sollen Brunnen Wasser liefern, Straßen kontrolliert werden, Schulen geöffnet sein. Die Taliban sollen unter Kontrolle gebracht werden - und zwar auch, in dem man mit ihnen kooperiert. Und in einigen Jahren, so die Hoffnung, soll aus den Inseln ein Stück Festland werden.
"Bevölkerung schützen, nicht Taliban töten"
"Wir wollen die afghanische Bevölkerung schützen, nicht Taliban töten", beschreiben Militärs ihren neuen Job. Den Schutz der Bevölkerung bezeichnet General McChrystal als "kritischen Punkt" der Militäroperationen, dem sich alles andere unterordne. So sollen Luftangriffe nur noch in äußersten Notfällen erfolgen - wenn Isaf-Bodentruppen während eines Einsatzes in direkte Gefahr geraten. Denn nur so könnten die USA ihre verlorene Glaubwürdigkeit wiederherstellen.
Zwei Wochen dauerten die Kämpfe in Helmand, danach zogen sich die Taliban nach Westen und nach Norden zurück, Richtung Kundus. Seitdem herrscht relative Ruhe in der noch vor kurzem als hochgefährlich eingestuften Provinz. Nach Angaben der US-Militärs wird heute noch einer von 13 Kreisen von den Taliban kontrolliert. Und anders als früher sollen die amerikanischen Soldaten nun in den Dörfern stationiert bleiben, aus denen sie die Taliban verjagt haben. Sie sollen Vertrauen aufbauen, den Bewohnern Sicherheit geben und zugleich einen rudimentären Wiederaufbau überwachen.
Nun warten sie auf die "Flutwelle." Denn eine "surge", eine regelrechte Schwemme ziviler Ausbilder und Wiederaufbauhelfer soll in den kommenden beiden Jahren den Soldaten folgen. Die Experten sind sich weitgehend einig: der Erfolg der Obama-Strategie hängt entscheidend davon ab, wie schnell nun die Zahl der afghanischen Polizisten und Soldaten erhöht werden kann. Und dazu braucht es Ausbilder. Tausende.
Obamas Afghanistan-Strategie ist sehr kompliziert
Kann diese Strategie überhaupt funktionieren? "Im Prinzip ja", sagt James Dobbins von der konservativen Rand-Stiftung in Washington. Der ehemalige Sonderbotschafter der US-Regierung war in den ersten Kriegsjahren ständig in Afghanistan, schleppte manchmal Koffer voller Dollar mit. "Im Irak hat sie immerhin zur Wende beigetragen. Dort hat sich die Situation in den vergangenen beiden Jahren deutlich verbessert. Aber Obamas Afghanistan-Strategie ist sehr kompliziert. Sie erfordert intensivste Kooperation auf vielen verschiedenen Ebenen: zwischen einer afghanischen Regierung und den USA und zwischen allen Verbündeten, zwischen zivilen und militärischen Strukturen und dann auch noch innerhalb der internationalen Organisationen. Es wird überaus schwierig, dies zu realisieren. Denn im Moment verlieren wir eher, als dass wir gewinnen. Aber die Stabilisierung der Lage ist unsere einzige Hoffnung. Wir müssen die Gewalt eindämmen, die Zahl der Toten reduzieren."
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In 12 bis 18 Monaten soll die neue Strategie erste "sichtbare Erfolge" vorweisen, heißt es in Washington. Denn sonst schwinden Unterstützung im Kongress und in der Öffentlichkeit. Und vor allem: dann steht bald schon Obamas Wiederwahl an.
Denn die Stimmung droht zu kippen: Zum ersten Mal fordert jetzt eine Mehrheit der US-Bürger den raschen Abzug ihrer Truppen. Mit der neuen Strategie steigt die Zahl der getöteten US-Soldaten, mit 51 Gefallenen war der August der bislang tödlichste Monat für die US-Truppen in Afghanistan. "Ich habe das schrecklich flaue Gefühl in meinem Magen, dass wir dort in einen endlosen Krieg hineingezogen werden", sagte ein demokratischer Abgeordneter nach einer Afghanistan-Reise. Und der einflussreiche demokratische Senator Carl Levin will Forderungen nach weiteren Truppenerhöhungen erst einmal nicht zustimmen.
Die Zeit drängt auch für Berlin
Auch für die Bundesregierung drängt die Zeit. Auch in Berlin ist jetzt auf einmal von Exit-Strategie die Rede. Aber die gibt es nicht umsonst, meint der ehemalige Bundesverteidigungsminister Volker Rühe, 66: Wir müssen uns endlich darüber klar werden: Eine zeitliche Begrenzung unseres Einsatzes allein reicht nicht aus", sagt er zu stern.de. "Der Schlüssel zu einer zeitlichen Begrenzung liegt vielmehr darin, dass wir uns jetzt mit voller Kraft engagieren - und zwar als gleichberechtigter Bündnispartner mit denselben Einsatzregeln, die auch für alle anderen gelten, etwa für Franzosen oder Briten. Wahrscheinlich muss Europa dann mehr Soldaten einsetzen. Auch Deutschland sollte dann mehr Bodentruppen entsenden.
Denn in Kundus hat sich gezeigt, dass es vor Ort zu wenige Bodentruppen gibt. Wir sollten uns in einer großen gemeinsamen Anstrengung in den kommenden beiden Jahren viel mehr engagieren. Bis Ende 2011 muss sich die Lage in Afghanistan deutlich verbessert haben. Danach können wir einen schrittweisen Abzug unserer Truppen einleiten. Die Regierung sollte den Menschen noch vor der Bundestagswahl reinen Wein über die Strategie einschenken. Die wirkliche Frage an die deutsche Politik lautet daher: Seid Ihr bereit, in den kommenden beiden Jahren mehr Verantwortung zu übernehmen?"
"Die Taliban warten nur darauf, dass wir abziehen"
Ein Erfolg für die USA in Afghanistan muss her, und zwar rasch. Eine Exit-Strategie für Obama. Wie die aussieht? Obamas Afghanistan-Mann Bruce Riedel zögert. "Die Taliban warten nur darauf, dass wir jetzt abziehen, so wie die sowjetischen Truppen vor 20 Jahren. Dann würden Taliban und al Kaida ihre Operationsbasis in Afghanistan wiederaufbauen. Das aber hätte wohl einen Sieg islamistischer Extremisten in Pakistan zur Folge. Dann droht das am schnellsten wachsende Nukleararsenal der Welt in die Hände von Islamisten zu fallen. Wir müssen jetzt erreichen, dass Afghanistan stark genug ist, mit Aufständischen mehr oder weniger selbst fertig zu werden. Wir brauchen mehr Ressourcen, Truppen wie Ausbilder. Und wir benötigen finanzielle Unterstützung auf lange Zeit. Allein die Stärke der afghanischen Armee muss auf mindestens 200.000 Mann mehr als verdoppelt werden."
Und dann spricht Bruce Riedel aus, was längst alle denken, in Washington und wohl auch in Berlin: "Wir brauchen ein Minimum an funktionierenden staatlichen Institutionen. Dabei könnte man Taliban, die dem Dschihad abschwören, in eine neue Ordnung integrieren."
Es ist ein Rennen gegen die Zeit, gegen die Schlagzeilen der Zeitungen, denn dieser Krieg wird auch in Washington gewonnen oder verloren. Irgendwie muss das Desaster in einen Erfolg verwandelt werden, und vielleicht gibt es wirklich keine echte Alternative. Aber von einem "Sieg" in Afghanistan spricht in Washington niemand mehr.
Jetzt im neuen stern
Raus aus Afghanistan - aber wann und wie?
stern-Afghanistan-Korrespondent Christoph Reuter über die Bundeswehr, die Taliban und das geschundene Land.