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Notlage in Großbritannien "Beifall zahlt keine Rechnungen": Klinikpersonal streikt – Gesundheitssystem vor dem Kollaps

Brexit-Bus
"Wir schicken jede Woche 350 Millionen Pfund an die EU – lasst uns stattdessen unser NHS finanzieren" steht auf dem Bus der Brexit-Kampagne. Zwei Jahre nach Austritt steht das Gesundheitssystem schlechter da als zuvor.
© Str / DPA
In der Corona-Pandemie waren Pfleger und Klinikpersonal des britischen Gesundheitsdienstes die Helden: "Gott schütze den NHS", steht noch immer an vielen Wänden. Doch nun liegt der NHS selbst auf der Beatmungsstation.

Überfüllte Stationen, überarbeitete Ärzte und überlastete Rettungsdienste: Das britische Gesundheitssystem NHS liegt am Boden. Chronisch unterfinanziert, ist der einstige Stolz der Nation längst selbst ein Fall für die Notaufnahme. Pflegekräfte und Klinikpersonal fordern mit Nachdruck einen deutlichen Lohnaufschlag – den die konservative Regierung bislang verweigert. Nun zieht der Berufsverband der Pflegekräfte, das Royal College of Nursing (RCN), die Notbremse und ruft an diesem Donnerstag erstmals in seiner mehr als 100-jährigen Geschichte seine Mitglieder zum Streik auf.

Die "Nurses", wie Krankenschwestern und Pfleger auf Englisch heißen, hätten seit 2010 – so lange wie die Konservative Partei die Regierung bildet – 20 Prozent Einkommensverlust erlitten. Auch das aktuelle Angebot der Regierung bedeute angesichts der hohen Inflation sinkende Reallöhne, argumentiert das RCN. Doch Premierminister Rishi Sunak betont, es sei nunmal kein Geld mehr da. Man habe sich bei dem Angebot an den Vorschlag eines unabhängigen Beratungsgremiums gehalten. Der "Guardian" kritisiert, die Regierung vertraue darauf, dass unterbezahlte Mitarbeiter freiwillig mehr arbeiten – dies sei eine "zynische Ausbeutung".

In Corona-Zeiten wurden Krankenpfleger zu Helden – ausgezahlt hat sich das nicht

Der Streik des Klinikpersonals ist nicht der einzige Ausstand, der das Vereinigte Königreich derzeit trifft. Bei den Bahnen wird gestreikt, bei der Post, bald legen die Grenzbeamten tagelang die Arbeit nieder. Doch der NHS-Streik ist für die Regierung um einiges heikler. Denn seit der Pandemie gelten die Pflegekräfte als Helden.

Großbritannien war auch angesichts der erratischen Corona-Politik des damaligen Premiers Boris Johnson das europäische Land mit den meisten Toten und Krankenhauseinweisungen. Unermüdlich versorgte der NHS die Patienten. Johnson selbst landete mit Corona auf der Intensivstation und dankte anschließend seinen Lebensrettern. Seit Dezember 2020 organisierte der NHS eine international anerkannte Impfkampagne. In zahlreichen Fenstern hingen Kinderzeichnungen zum Dank. "Gott schütze den NHS", steht noch immer auf vielen Wänden im Land.

Doch ausgezahlt hat es sich nicht. Zwar erhielten NHS-Mitglieder im Gegensatz zu anderen Staatsbediensteten trotz Corona-Sparmaßnahmen eine kleine Lohnerhöhung. Nun aber, wo riesige Preissprünge bei Energie und Lebensmitteln zahlreiche Menschen in die Armut treiben, ist kein Geld für die Helden da. Dafür noch mehr Arbeit.

Britisches Gesundheitssystem vor Kollaps: Abgesagte OPs, Staus vor Notaufnahmen

Auch in Deutschland sind die Rettungskräfte alarmiert. Zu Wochenbeginn warnte ein neues Bündnis, der Rettungsdienst kollabiere. Doch die Probleme im Königreich sind noch größer.

Der Rückstau bei Routine-Operationen ist wegen der Pandemie von wenigen Zehntausend auf mehr als sieben Millionen gestiegen. Allein wegen Personalengpässen wurden 2021 rund 30.000 Operationen abgesagt. Rettungswagen, die bei Herzattacken und Schlaganfällen innerhalb von zwölf Minuten ankommen sollen, brauchen im Durchschnitt eine Stunde. Es ist ein Teufelskreis: Die Fahrzeuge stauen sich an den Notaufnahmen, um ihre Patienten zu übergeben. Kaum vergeht eine Woche ohne Berichte über Menschen, die mehr als einen Tag lang auf einen Notarzt warten müssen. Teils liegen sie solange auf dem Fußboden.

Dabei sollte doch mit dem Brexit alles besser werden. "Wir schicken jede Woche 350 Millionen Pfund an die EU - lasst uns stattdessen unseren NHS finanzieren", warb die Brexit-Kampagne um Boris Johnson damals auf einem roten Bus. Die Zahl war – wie so viele andere Angaben – eine Lüge, wie auch Brexiteers später einräumten.

"Beifall zahlt keine Rechnungen"

Geld ist keines da, auch weil die desaströse Finanzpolitik von Kurzzeit-Premierministerin Liz Truss das Vertrauen der Märkte erschüttert hat. Die Regierung bietet zwar weitere Gespräche an, macht aber gleichzeitig klar, dass sie nicht über Lohnerhöhungen reden werde. Die Fronten sind verhärtet: "Beifall zahlt keine Rechnungen", betonen die "Nurses" auf ihren Transparenten mit Blick auf den allabendlichen Applaus für den NHS während der Pandemie. Unterstützung kommt von der Opposition. Der gesundheitspolitische Sprecher der Labour-Partei, Wes Streeting, wirft der Regierung vor, sie betrüge mit ihrem Vorgehen die Patienten.

In der Not mobilisiert Premier Sunak die Armee. Soldatinnen und Soldaten sollen Krankentransporte übernehmen. Doch nur etwa 40 Militärärzte haben die nötige Qualifikation, dass sie auch im NHS arbeiten könnten, gestand Downing Street ein. Eine Lösung auf Dauer ist dies ohnehin nicht. Schon am kommenden Dienstag (20. Dezember) ist ein weiterer Streik angekündigt. Einen Tag später legen dann auch die Besatzungen der Rettungswagen die Arbeit nieder.

les / Benedikt von Imhoff DPA

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