Die meisten jungen Israelis lieben ihr Land mit tiefer Leidenschaft. Ihre Großeltern und Eltern haben es erobert, aufgebaut und verteidigt. Sie selbst führen die Kriege fort, um Israels Existenz zu sichern. Feinde überall, so das berechtigte Gefühl, das immer wieder in Angst und Aggression umschlägt, das Hardliner wie Benjamin Netanjahu an der Macht hält, und das dazu geführt hat, dass es in Israels politischer Landschaft keine ernstzunehmende Linke mehr gibt. Dabei wäre die doch eigentlich für die soziale Gerechtigkeit zuständig. So bleibt der Bevölkerung gar nichts anderes übrig, als selbst Verantwortung zu übernehmen: Seit drei Wochen gehen die Menschen auf die Straße. Genauer gesagt: Sie campieren.
Was als Studentenprotest begonnen hat, ist ausgewachsen zu einer landesweiten Protestbewegung gegen die sozialen Zustände und die Regierung Netanjahu. Der Premier wird mittlerweile aufgefordert abzutreten. Deshalb von einem israelischen Frühling zu sprechen, wäre allerdings absurd, schließlich ist Israel eine Demokratie - anders als jene autokratisch regierten Staaten der arabischen Welt, in denen das Volk aufbegehrt. Doch tatsächlich machen die israelischen Demonstranten wie ihre arabischen Nachbarn deutlich, dass sie erst wieder gehen werden, wenn sich etwas ändert.
Zelte gegen soziale Ungerechtigkeit
Gut drei Wochen ist es her, dass junge Leute damit begannen, den Touristen auf dem Prachtboulevard Rothschild in Tel Aviv den Blick auf die Bauhaus-Reste mit Zelten zu verbauen. Auslöser war ein Facebook-Aufruf der 25-jährigen Studentin Daphni Leef, die mit Kommilitonen darauf aufmerksam machen wollte, dass junge Menschen und Familien auf dem Immobilienmarkt keine Chance mehr haben. Ans Kaufen ist nicht zu denken, und die Mietpreise für Wohnungen, die meist nur für ein Jahr vergeben werden, sind unerschwinglich. Vom häufig schlechten Zustand des Wohnraums ganz zu schweigen.
Dabei ist die Lage am Immobilienmarkt nur der Trigger, der den nationalen Frust über die Diskrepanz zwischen Einkommen und Lebenshaltungskosten auf die Straße getragen hat: Seit Jahren ist bekannt, dass die Schere zwischen Arm und Reich in kaum einem Industriestaat so sehr auseinandergeht wie in Israel. Das Land, das einst als Ort einer idealistischen Vision von Sicherheit, Freiheit und Gleichheit galt, war bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach den USA das Land mit den größten sozialen Gegensätzen. Das steht im Bericht eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses aus dem Jahr 2002 nachzulesen. Schon damals hielten zehn Prozent der Bevölkerung zwei Drittel des gesamten privaten Kapitals im Land. Heute lebt jeder fünfte Israeli unter der Armutsgrenze – und dazu muss er nicht einmal arbeitslos sein.
Therapie fürs ganze Land
Die Kampagne sei ein Kampf um Veränderung, bei dem es um alles oder nichts gehe, sagt Daphni Leef. Analysten stimmen ihr zu, dass dieser Kampf zudem ein therapeutischer Prozess für Israel sei: "60 Jahre alte Männer, die in Kriegen gekämpft haben, kommen zu mir und sagen, dass sie bei unserem Protest erstmals das Gefühl haben, wirklich etwas tun zu können. Das ist eine Art Therapie“, zitiert die Zeitung "The Jewish Chronicle" Daphni Leef.
Die Zeltstädte als Zeichen des Protests sind mittlerweile über das ganze Land verteilt - von Beer Sheva am Rande der Negev-Wüste bis nach Naharijja ganz im Norden. Auch vor Netanjahus Haus in Jerusalem wird gecampt. Es gibt Kinderwagen-Demos wütender Eltern, der Mittelstand und auch die Gewerkschaften sind mit dabei. Laut der liberalen israelischen Tageszeitung "Haaretz" findet der Protest 87 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung. 54 Prozent sind unzufrieden mit Netanjahus.
Stresstest für Israels Demokratie
Dessen eilige Versuche, die wütenden Bürger zu beruhigen, schlugen fehl: Zwar sollen neue Studentenapartments entstehen und das Studentenleben billiger werden, doch reicht das den Protestierenden nicht. Es gehe schließlich um das ganze Land, nicht nur um die Studenten. Um eine Politik der Nachhaltigkeit. Das ist ein Stresstest für Israels Demokratie.
Die Bürger Israels forderten ihr Land zurück, schrieb "Haaretz"-Kommentator Carlo Strenger, "von selbstgefälligen Politikern, die sich ausschließlich ihren Parteien verantwortlich fühlen, die wie korrupte Familienclans geführt werden, für die Tausende Wählerstimmen ge- und verkauft werden". Strenger argumentiert zudem, dass die soziale Misere auch in der Verbindung zum Umgang mit den Menschenrechten in seinem Land zu sehen sei. Die Proteste in Israel haben tatsächlich das Potential zu einer Revolution.
Am Samstagabend werden zur allwöchentlichen Demonstration am Ende des Sabbat allein in Tel Aviv mehr als 150.000 Menschen erwartet. Dann heißt es wieder "Ich liebe mein Zelt - denn ich liebe mein Land."