Der Mann wirkt rastlos, fast getrieben, als wolle er atemlos all die Jahre aufholen, die ihm das Regime des Wüstenherrschers Gaddafi genommen hat. Achteinhalb Jahre saß Aschraf al Hadschusch in Libyen im Gefängnis, jetzt ist er frei. Aber erlöst sieht er nicht aus. Er fühlt sich nicht gut, er ist müde und dennoch ständig in Bewegung. Wenn er erzählt, dann überschlägt sich seine Stimme. Immer wieder wiederholt er seine Botschaft, auf arabisch, bulgarisch, englisch: "Wir sind eine Million Mal unschuldig!"
Denn das war das Schlimmste in den Jahren der Haft, sagt er: "Viele Menschen in Libyen glauben wirklich, dass ich und die fünf Krankenschwestern Hunderte Kinder im Krankenhaus absichtlich mit dem HIV-Virus infiziert haben. Ich habe diesen Vorwurf im Gefängnis jeden Tag gespürt. Ich habe den Hass der Wärter gespürt, ich habe die anderen Gefangenen tuscheln hören. Niemand glaubte an meine Unschuld."
Vorsichtig in die neue Freiheit
Seit Mittwoch sind er und die fünf Krankenschwestern in der bulgarischen Hauptstadt Sofia und versuchen sich vorsichtig an ihrer neuen Freiheit. Noch wohnen fast alle im Gästehaus auf dem Gelände der Präsidenten-Residenz "Bojana" am Fuße des Vitoscha-Gebirges, provisorisch, wie im Hotel. Ihre Koffer sind in Libyen geblieben, und manche der Frauen hatten zwei Tage nach ihrer Ankunft nur ein paar T-Shirts und Jeans.
Eine Schwester traute sich bislang in das alte Leben zurück, in die alte Wohnung, zu Verwandten und alten Freunden. Keine der anderen fühlt sich dem Alltag gewachsen nach acht Jahren im Gefängnis, nach Folter, Angst, Todesurteilen und Isolation. "Ich weiß nicht, wo ich hin soll", sagt Valja Tschervenjaschka. Orientierungslos und ratlos sind die meisten.
Bis heute kann sich keine der Krankenschwestern vorstellen, wieso ausgerechnet sie verhaftet wurden, als 1998 im Kinderkrankenhaus der Stadt Bengasi immer mehr HIV-Infektionen diagnostiziert wurden. Die Verhaftung war ein Willkür-Akt, der offenbar Sündenböcke für die Schlamperei im Krankenhaus präsentieren sollte. Bereits vor dem Prozess im Jahre 2004 stellten internationale HIV-Experten fest, dass sich das Virus im Krankenhaus bereits verbreitet haben muss, bevor der Arzt im Praktikum Aschraf al Hadschusch und die fünf Gastarbeiterinnen aus Bulgarien ihren Dienst antraten.
Wegen des besseren Lohns nach Libyen
Die Frauen hatten damals Zeitverträge mit den Libyern abgeschlossen. Sie waren wegen des besseren Lohns nach Libyen gezogen und nahmen deshalb auch die Trennung von ihren Familien in Kauf. Der Palästinenser Aschraf al Hadschusch, 38, wurde in Ägypten geboren, wuchs jedoch in Libyen auf und absolvierte dort eine Ausbildung als Arzt.
Besonders schwer war die erste Zeit der Gefangenschaft, berichtet die Krankenschwester Kristijana Valtscheva, 48, stern.de. Nach ihrer Verhaftung im Februar 1999 wurden sie aus einem Polizeirevier in eine Schule für Polizeihunde verlegt. Über ein Jahr lang wurden die Frauen dort in Einzelzellen gefangen gehalten. Unter Folter erpressten die libyschen Beamten von zwei Krankenschwestern und dem Arzt Aschraf al Hadschusch Geständnisse. Kristijana Valtscheva und die anderen Frauen möchten darüber nicht reden. Aber Aschraf al Hadschusch spricht von der Gewalt, immer wieder, als erlöse ihn das. "Wir wurden mit Stromschlägen misshandelt und geschlagen", sagt er. "Wir wurden mit Schlafentzug gefoltert. Wir mussten uns hinknien. Wer einschlief, bekam Fußtritte."
Mehr als zwei Jahre lang hatten die Gefangenen keinen Kontakt zu ihren Angehörigen. Anrufe, nicht einmal Briefe waren erlaubt. Die Botschaft kümmerte sich im ersten Jahr kaum um die Häftlinge. Bulgarien, inzwischen Nato- und EU-Land, war damals krisenerschüttert und außenpolitisch ohne Einfluss. Nur dreimal wurden die Frauen von Diplomaten besucht. Doch das Gespräch mit den Landsleuten hatten die Libyer den Frauen zuvor strikt verboten. Sie durften ihnen nur ihre Namen sagen. "Beim dritten Mal konnten wir ihnen zuflüstern, was hier wirklich los ist", so Kristijana Valtscheva. Den Angehörigen in Sofia teilten die Behörden mit, die Krankenschwestern seien unter Hausarrest und lebten wie in einem Hotel.
Tatsächlich erleichterten die Libyer erst nach über einem Jahr die Bedingungen für die Frauen. Im April 2000 wurde die Isolationshaft aufgehoben, und die fünf Frauen teilten sich von nun an eine Zelle im Frauentrakt eines Untersuchungsgefängnisses. Später hatten sie zwei Zimmer mit Küche zur Verfügung. Offenbar erkannte die libysche Führung den Wert ihrer Geiseln. Man kümmerte sich sogar um ihre medizinische Betreuung, engagierte Ärzte und ließ eine Frau sogar operieren.
Die Angst vor der Willkür blieb
Die Angst vor der Willkür aber blieb. "Wir waren bis zum letzten Tag Opfer von psychischer Gewalt", sagt Arzt al Hadschusch. Er war bis zum Ende seiner Haft im Trakt für Todeskandidaten des größten Gefängnisses in Tripolis untergebracht. Zweimal wurden die sechs Gefangenen zum Tod durch Erschießen verurteilt. "Ich habe in dieser Zeit verstanden, wie wenig ein Menschenleben wert sein kann", sagt Kristijana Valtscheva.
Begeistert feiern die bulgarischen Medien dieser Tage die Rückkehr der Krankenschwestern. Plakate mit dem Slogan "Ihr seid nicht alleine" kleben noch jetzt überall in der Innenstadt. Auch T-Shirts, Aufkleber, Anstecker und ein Popsong sollten die Unterstützung der Bulgaren bezeugen. In der ersten Pressekonferenz fragt eine Journalistin: "Wie haben Sie in der ersten Nacht in der Heimat geschlafen?" als sei nun alles wieder gut.
Einige wissen nicht, wo sie nun wohnen sollen
Doch das ist es nicht. Manche der ehemaligen Geiseln wissen nicht einmal, wo sie nun wohnen sollen, denn ihre Wohnungen sind längst vermietet oder werden von Verwandten bewohnt. Niemand redet darüber, ob die Ehen acht Jahre Haft überstanden haben. Zwei der Schwestern sind so krank, dass sie vermutlich in der kommenden Woche operiert werden müssen. Der Arzt Zdravko Georgijev, Ehemann von Kristijana Valtscheva und im Gefängnis bis 2004, wurde bereits ins Krankenhaus eingeliefert. Nur Sneschana Dimitrova fuhr nach Hause nach Botevgrad, um ihren schwerkranken Vater zu sehen.
Nur der Palästinenser Aschraf al Hadschusch, inzwischen bulgarischer Staatsbürger, hat einen Plan für die Zukunft. Ihm wurde angeboten, in Bulgarien seine Ausbildung zum Arzt abzuschließen. Er will das Angebot annehmen. Zwei Monate Praktikum im Krankenhaus hatten ihm 1999 noch gefehlt. "Ich muss nach vorne sehen", sagt er. "Ich darf mich nicht kaputt machen lassen. Ich möchte so viel nachholen, mir die Welt ansehen, reisen." Die Zeitung "Standard" sucht per Artikel gerade eine bulgarische Ehefrau für ihn, als brauche die Tragödie nun doch noch eine bunte Seite und ein schnelles Happy End.
Aschraf al Hadschusch versucht erst einmal die Wut zu ersticken. Er will sich nicht mehr die Frage stellen, warum es ausgerechnet ihn traf. "Wir hatten Pech", sagt er. "Das kann jedem Menschen auf der Welt passieren." Aber er wird den Libyern niemals vergeben, das weiß er schon jetzt. "Weil wir unschuldig sind", sagt er. "Wir sind eine Million Mal unschuldig."