China Könnte Xi Jinpings Null-Covid-Strategie zur Gefahr für ihn werden?

Xi Jinping vor einer chinesischen Flagge (Bildmontage)
Xi Jinping hält an der Null-Covid-Strategie für China fest. Wird das zu einem Risiko für ihn?
© ollegN / JOHN MACDOUGALL / Getty Images / AFP / stern-online
China hält seit Beginn der Corona-Pandemie an einer Null-Covid-Strategie fest. Doch mit dem Aufkommen der Omikron-Variante gerät sie ins Wanken. In Shanghai reagieren viele Bewohner wütend auf den harten Lockdown. Wird seine Corona-Politik für Xi Jinping gefährlich?

In China sah es nach der ersten Corona-Welle lange nach "Normalität" aus. Es gab Konzerte und Festivals mit dicht gedrängten Massen und ohne Masken. Etwas, was in Europa und anderen Teilen der Welt lange Zeit undenkbar war.

Für die politische Führung in China war das auf die Null-Covid-Strategie des Landes zurückzuführen. Das heißt: strikte Lockdowns und Quarantäne, geschlossene Grenzen, Massentests. Das Konzept ging lange auf. Doch mit Omikron sieht China sich mit dem schlimmsten Corona-Ausbruch seit dem Höhepunkt der ersten Welle Anfang 2020 konfrontiert. Null-Covid stößt an seine Grenzen.

Alles so wie vor Corona: das Strawberry Music Festival in Wuhan am 1. Mai 2021.
Alles so wie vor Corona: das Strawberry Music Festival in Wuhan am 1. Mai 2021.
© STR / AFP

In der Wirtschaftsmetropole Shanghai an der chinesischen Ostküste etwa haben das Millionen von Menschen zu spüren bekommen: Die Behörden verhängten einen strengen Lockdown über mehrere Stadtviertel.

Trotz der strikten Maßnahmen wurden in Shanghai Dutzende Todesfälle und Tausende Neuinfektionen gemeldet. Seit Anfang April dürfen die meisten der rund 25 Millionen Einwohner:innen ihre Wohnungen und Häuser so gut wie nicht verlassen. Dennoch bekommt die Stadt den Ausbruch nicht in den Griff.

Massentests in Peking und Guangzhou

Die Verwaltung hat dabei große Schwierigkeiten, die Konsequenzen für die Eingeschlossenen abzufedern: Die Stadt hat Mühe, ihre Bewohner:innen mit frischen Lebensmitteln zu versorgen oder ärztlich betreuen zu lassen, weil die Gesundheitsdienste in erster Linie für Corona-Tests und -Behandlungen gebraucht werden.

In Peking sind die dortigen Behörden inzwischen über wachsende Infektionszahlen alarmiert. Die Behörden warnten vor "düsteren" Zeiten, Massentests wurden ausgeweitet. Trotz der geringen Zahl ging die Angst um, dass auch Peking ähnlich wie Shanghai zuvor in einen teilweisen oder ganzen Lockdown gehen könnte. Mehrere Nachbarschaften wurden bereits abgeriegelt. Am Donnerstag wurden 50 Corona-Neuinfektionen aus der chinesischen Hauptstadt gemeldet, landesweit waren es laut Gesundheitsministerium mehr als 11.000 Fälle.

Die Anordnung der Tests im Pekinger Innenstadtbezirk Chaoyang hatte Panikkäufe in den Supermärkten ausgelöst. Auch die chinesische Millionenstadt Guangzhou hat nach einem Corona-Verdachtsfall am Donnerstag Massentests bei 5,6 Millionen Menschen veranlasst und hunderte Flüge gestrichen.

Mehrere Gründe für Null-Covid-Strategie in China

Chinas Staatschef Xi Jinping will von einem Ende der rigiden Eindämmungen trotz der vielen Probleme in Shanghai nichts wissen. Noch vergangene Woche betonte er beim Boao-Wirtschaftsforum, dass weiterhin "mühevolle Anstrengungen" nötig seien, um das Coronavirus unter Kontrolle zu bringen.

Steckbrief China

Ländername: Volksrepublik China

Hauptstadt: Peking

Fläche: 9.562.910 km²

Einwohnerzahl: 1,4 Milliarden (Stand 2019, Weltrang: 1)

Amtssprache: Chinesisch

Wichtige Städte: Schanghai, Peking, Guangzhou, Shenzhen, Tianjin, Wuhan, Dongguan, Hongkong, Chengdu, Chongqing, Nanjing, Shenyang, Xi'an, Hangzhou

Staatsoberhaupt: Präsident Xi Jinping (seit dem 14. März 2013), gleichzeitig Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und Vorsitzender der Zentralen Militärkommission

Regierungschef: Ministerpräsident des Staatsrats Li Keqiang (seit dem 15. März 2013)

Human Development Index: Rang 85 (2020)

Bruttosozialprodukt: 14,34 Bio. US-$ (Stand 2019)

Quellen: Bundeszentalre für Politische Bildung, Auswärtiges Amt

"Chinas Null-Covid-Strategie ist zum einen in der geringen Effektivität der chinesischen Impfstoffe, dem großen Anteil nicht ausreichend durch Impfungen geschützter älterer Personen und den begrenzten Kapazitäten des chinesischen Gesundheitssystems begründet", erklärt Dr. Sandra Heep, Professorin für Wirtschaft und Gesellschaft Chinas an der Hochschule Bremen, dem stern. "Zum anderen aber ist das Pandemiemanagement in China stark politisiert, und die Fähigkeit zur Beibehaltung der Null-Covid-Strategie wird als Beweis für die Überlegenheit des chinesischen politischen Systems dargestellt. Daher besteht aus Sicht der chinesischen Führung die Gefahr, dass ein Strategiewechsel als Eingeständnis des Scheiterns aufgefasst werden könnte. Einer Abkehr von der Null-Covid-Strategie stehen somit beträchtliche politische Hürden im Weg."

Der Ursprung in der Null-Covid-Strategie habe auch historische Wurzeln, erklärt Dr. Angelika Messner, Professorin am Chinazentrum der Universität Kiel, dem stern. "Die Entwicklung des modernen China baut auf drei Säulen auf: Hygiene, Wissenschaft und Mobilisierung der Massen durch Kampagnen." So habe man in China etwa schon im frühen 20. Jahrhundert Maßnahmen wie Quarantäne eingesetzt, etwa bei der Beulenpest in der Mandschurei. Dass China auch viele hochqualifizierte Epidemiologen und Expertinnen hat, zeigte sich etwa auch bei Corona. "Die Sars-Pandemie im Jahr 2002/2003 hat man nicht vergessen. Man war gut vorbereitet. Außerdem wollte China eine Vorbildfunktion in der Welt bei der Pandemiebekämpfung einnehmen."

Shanghai: Wut in sozialen Netzwerken

Ein weiterer Faktor für die Erklärung der Null-Covid-Strategie sei die Fürsorge, so Messner. China sei ein Staat mit zentraler Regierung und großer Bevölkerungszahl. "Die Fürsorge für die gesamte Bevölkerung ist eine tragende Legitimation für Xi." Zudem gab es einen Wettlauf mit westlichen Staaten, um zu zeigen, dass man Kranke und Tote verhindert. Auch die Identifikation mit Gemeinwesen habe in China gut funktioniert.

Dennoch gebe es in China Experten, die sagen, wir "müssen mit Covid leben", sagt Messner. Wenn man Omikron als "Grippe" einstufe, könne man aus den Lockdowns. Allerdings werde man bei der Strategie jetzt schon "weicher" – so würden zum Teil nur einzelne Stadtteile abgeriegelt und nicht die ganze Stadt.

In Online-Netzwerken machen aber dennoch immer mehr Menschen ihrem Ärger über die Lockdowns Luft. Ein sechsminütiges Video rief etwa die chinesische Zensur auf den Plan. Allerdings hatten die Zensoren Mühe, das Video zu löschen, weil Internetnutzer es auf verschiedenen Cloud-Servern immer wieder neu hochluden.

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Einfache Schwarz-Weiß-Luftaufnahmen vom menschenleeren Shanghai sind in dem Video zunächst unterlegt mit Presseerklärungen, in denen die Behörden zu Beginn des Corona-Ausbruchs im März noch versichern, dass sie einen Lockdown in der Metropole wegen der wirtschaftlichen Auswirkungen ablehnen.

Es folgen Tonaufnahmen von Klagen eines Mannes, dessen kranker Vater in keinem Krankenhaus behandelt wird, von einer Frau, die nach einer Chemotherapie im Krankenhaus nicht nach Hause zurückkehren darf oder von einer Mutter, die ihre Nachbarn mitten in der Nacht um fiebersenkende Mittel für ihr Baby anfleht.

Video: China: Corona-Pandemie verschärft Lage von Tagelöhnern
China: Corona-Pandemie verschärft Lage von Tagelöhnern

"Massivste öffentliche Zurschaustellung von Wut" seit 2012

Als das Video tatsächlich von allen Online-Plattformen in China verschwunden war, reagierten viele Internetnutzer mit Unverständnis und Empörung. "Das Video zeigt nur nackte Tatsachen. Es gibt nichts Provokantes", kritisierte einer von ihnen. "Der Inhalt ist nicht neu – aber die Tatsache, dass sogar das zensiert wird, beunruhigt mich", schrieb ein anderer.

"Wenn man sich die Anzahl der Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund ansieht, die sich zu Wort gemeldet haben, und die Intensität ihrer Äußerungen, war dies die massivste öffentliche Zurschaustellung von Wut, seit Xi 2012 an die Macht kam", sagte Yang Chaohui, Dozent für Politikwissenschaft an der renommierten Peking-Universität der Nachrichtenagentur Reuters.

Hat die Wut der Chines:innen über die Lockdowns das Potenzial, gefährlich für Xi Jinping zu werden? 

"Auf keinen Fall kurzfristig", ist sich China-Expertin Messner sicher. Vor dem Parteitag im Herbst 2022 werde nichts in diese Richtung geschehen. "Vielleicht nächstes Jahr, man muss da auch den Krieg in der Ukraine mit im Blick behalten."

"Die chaotische Situation in Shanghai wirft ein schlechtes Licht auf die Kommunistische Partei, die sich als Hüterin der politischen und gesellschaftlichen Stabilität in China versteht", resümiert Professorin Heep.

Ausbreitung der Proteste unwahrscheinlich, so Expertinnen

Die logistischen Probleme, die zu Engpässen bei der Lebensmittelversorgung führen, hätten die Bevölkerung in Shanghai überrascht und ließen sich "schwerlich mit dem Image der Kommunistischen Partei als Garantin wirtschaftlichen Wohlstands vereinbaren". Aber: "Dass die Situation in Shanghai für Xi persönlich zum Problem wird, ist eher unwahrscheinlich. Denn die chinesische Führung macht die Politiker in Shanghai für das schlechte Pandemiemanagement verantwortlich. Auf lokaler Ebene könnte es daher durchaus personelle Konsequenzen geben", meint Heep.

Auch ein Ausbreiten der Proteste hält die Professorin für unwahrscheinlich. "Angesichts der Intensität der Überwachung in China und der enormen Risiken, die mit physischen Protesten in Chinas zunehmend repressivem Regime einhergehen, ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass es in der physischen Welt zu Protesten in großem Stil kommen wird."

Die Ausweitung der Proteste hält Messner ebenfalls für unwahrscheinlich. "Ich glaube schon, dass man alles tun wird, um diese Proteste zu schlichten. Es gibt zwar immer wieder in China kleinere Proteste. Ich denke aber nicht, dass solche Proteste so schnell auf die Straße übertragen werden. Mehr als 80 Prozent der Chines:innen stehen hinter Xi. Xi ist der Landesvater für China. Die Klassifizierung, Omikron als harmloser einzustufen, könnte da eine Lösung sein, um Proteste einzudämmen."

Sorge in der Wirtschaft

Im Rest der Welt wächst unterdessen die Besorgnis darüber, wie sich die Corona-Lage in China auf die Lieferketten auswirken könnte. Die ständigen Lockdowns haben der Wirtschaft geschadet und unter anderem zu Rückstau im weltweit verkehrsreichsten Containerhafen in Shanghai geführt. Hinzu kommt, dass derzeit massenhaft Ausländer das Land verlassen. Viele internationale Unternehmen haben Mühe, ihre ausländischen Arbeitskräfte in China zu halten und neue anzuwerben.

Die britische Handelskammer sieht die Risiken in China für die Wirtschaft "auf dem höchsten Niveau seit 2020". Jens Hildebrandt von der deutschen Auslandshandelskammer in Peking warnt, die Lockdown-Maßnahmen würden "langfristig Spuren hinterlassen".

Kommunistische Partei will Erfolge vorweisen

Im Herbst diesen Jahres wird sich Xi Jinping höchstwahrscheinlich für fünf weitere Jahre in seinem Amt als Generalsekretär der Kommunistischen Partei bestätigen lassen. "Vor diesem Hintergrund ist es für die KP in diesem Jahr besonders wichtig, politische und wirtschaftliche Erfolge vorzuweisen und sich als Garantin für Stabilität und Wohlstand inszenieren zu können. Zurzeit sieht es nicht so aus, als könnte die KP diesen Ansprüchen bis zum Herbst gerecht werden", meint Heep.

Denn zur wachsenden Unzufriedenheit mit dem Pandemiemanagement kämen wirtschaftliche Probleme hinzu. Auch das Vorgehen gegen Spekulationen im Immobiliensektor und die zunehmenden politisch motivierten Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen führten zu einem verlangsamten Wachstum, so Heep weiter. "Mittelfristig wird auch Chinas rhetorische Unterstützung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wirtschaftliche Konsequenzen haben, da sie bereits bestehende Tendenzen zur Blockbildung verschärft. Diese Vielzahl von Problemen trübt Xis Ansehen sicherlich auch in den Augen eines Teils der politischen Eliten in Beijing."

Anzeichen, dass Xis Machterhalt in Gefahr ist, seien bisher allerdings nicht nach außen gedrungen, erklärt Heep. "Sollte es zu einer Verschärfung der politischen und wirtschaftlichen Probleme kommen, ist zu erwarten, dass die KP noch entschlossener gegen Kritik innerhalb Chinas vorgehen und gleichzeitig versuchen wird, ihre Legitimität durch zunehmende Aggression nach außen zu stärken."

mit Material der DPA und AFP

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