Wie geht es Ihnen heute, Frau Höftmann Ciobotaru?
Naja, seit heute stört die Armee auch in Tel Aviv das GPS-Signal, jetzt funktioniert das Navi nicht mehr. Das soll es Feinden schwerer machen, uns anzugreifen. Soldaten wurden auch wieder zurückgerufen. Seitdem ist die Angst groß, dass der Iran selbst Israel angreifen könnte, nicht nur durch Stellvertreter. Seit dem 7. Oktober ist nichts mehr, wie es war. Wir sitzen kontinuierlich auf dem heißen Stuhl.
Eigentlich wollte ich mit einer leichten Frage beginnen ...
Ja, ich bin jetzt direkt eingestiegen. Aber diese Fragen beschäftigen uns jeden Tag.
Gleichzeitig sind Sie in einer Stunde zum Abendessen verabredet. Wie fühlt sich das Leben für Sie gerade an?
Seit dem 7. Oktober empfinden wir eine konstante Angst. Wir haben jedes Sicherheitsgefühl verloren. Und wir haben Angst um die mehr als 100 Menschen, unsere Leute, die immer noch festgehalten werden. Aber auch Sorge bei den Bildern aus dem Gazastreifen, für die palästinensische Bevölkerung ist es ein verheerender Krieg. Und wir werden immer noch bedroht, durch die Hisbollah im Libanon oder Iran-nahe Milizen in Syrien, im Irak, in Jemen.

Bleibt da Zeit, das Erlebte zu verarbeiten?
Man versucht, während man noch bedroht wird und der Krieg weitergeht, um diese 1200 Menschen zu trauern, die auf brutalste Weise ermordet wurden. Der Anschlag ist jetzt ein halbes Jahr her. Wir versuchen weiterzuleben, weiterzuarbeiten, uns um unsere Kinder zu kümmern, Beziehungen zu anderen Menschen zu pflegen. Es ist schwer zu erklären, was wir gerade durchmachen, weil alles gleichzeitig passiert.
Wie fühlt sich der Gedanke an, dass der 7. Oktober ein halbes Jahr her ist?
Ich weiß noch genau, wie ich morgens aufgewacht bin und die Fotos in den Whatsapp-Gruppen gesehen habe. Am Anfang wusste niemand, was los war. Dann kamen die Bilder aus dem Kibbuz und die Videos der Hamas-Terroristen selbst, die sie über soziale Netzwerke gestreut haben. Es kommt mir vor wie gestern, dass ich Bilder der jungen Naama Levy gesehen habe, die an den Haaren aus dem Kofferraum eines Jeeps herausgezogen wird, mit Blut im Schritt. Die ersten Monate habe ich jeden Tag geweint. Es ist aber erstaunlich, woran der Mensch sich gewöhnen kann. Nach sechs Monaten bin ich etwas weiter.
Hamas-Überfall auf Israel: "Es war eine irre Situation"
Wie haben Sie den Tag damals erlebt?
Es war eine irre Situation für mich. Ich war in Berlin auf Lesereise, aber meine zwei Kinder und meine Eltern waren in Tel Aviv. Ich bin morgens aufgewacht und hatte zig Nachrichten und Anrufe auf dem Handy. Mein Ex-Mann schrieb mir, ich solle mir keine Sorgen machen, er sei mit den Kindern und meinen Eltern in Sicherheit. Aber am Anfang wusste man gar nicht was los war! Wir sind Raketenalarm gewöhnt, haben eine gewisse Kriegserfahrung. Auch meine Kinder, absurderweise. Aber meine Eltern haben die nicht, die sind aus Deutschland.
Und wie ging es dann weiter?
Tel Aviv war völlig still. Die Türen waren verriegelt, Jalousien heruntergelassen. Alle Menschen saßen in Bunkern, es war den ganzen Tag Raketenalarm. Und ich war in Berlin getrennt von meinen Kindern und Eltern, völlig aufgelöst, und dachte ich muss ausrasten vor Sorge. Aber ich arbeite auch als Journalistin und habe sofort gearbeitet. Am 7. Oktober um 14 Uhr habe ich mit einem Bekannten einen Podcast aufgenommen. Auch auf meiner Lesereise habe ich danach über nichts anderes als diesen Tag gesprochen.
Hamas greift Israel an – eine Chronik der Ereignisse in Bildern

Und Ihre Familie?
Wir haben meine Kinder und Eltern zwei Tage später über Prag ausgeflogen. Dann waren wir erst mal drei Wochen in Deutschland. Meine Kinder waren extrem panisch, die wollten gar nicht zurück. Aber hier ist ja unser Zuhause. Und wenn die Schule wieder anfängt, dann hat der Staat auch beschlossen, dass es einigermaßen sicher ist. Also sind wir zurückgeflogen. Es war eine schwierige Entscheidung, die ich als Mutter treffen musste.
Ich habe in einem Aufsatz von Ihnen den Satz der Psychologin Lihie Gilhar gelesen: "In Israel wird dem Trauern wenig Zeit eingeräumt." Wie gelingt es, nach so einem Erlebnis weiterzumachen?
Das jüdische Volk muss seit Jahrhunderten mit Angriffen, Pogromen und anderen Herausforderungen umgehen. Die höchste Stufe war natürlich die Shoah. Deshalb gibt es in Israel einen Fokus auf Resilienz statt auf Trauma. Die Motivation, dass dieses Volk weiter existiert, ist sehr stark und damit verbunden auch das Gemeinschaftsgefühl. "Jetzt erst recht" sagt man sich. Man lebt hier intensiver, mit umso mehr Lebenswillen. Das ist etwas sehr Besonderes, führt aber auch dazu, dass für das Trauern nicht so viel Platz ist. Die Familien, die am 7. Oktober Angehörige verloren haben, sagen deshalb, dieses Leid und die Toten bekämen nicht genug Aufmerksamkeit.
Die israelische Gesellschaft mürbe zu machen ist das Ziel der Hamas.
Inwiefern?
Am Anfang wurde noch viel darüber berichtet. Das hat verständlicherweise nachgelassen, die Gesellschaft wird davon mürbe. Aber die israelische Gesellschaft mürbe zu machen ist das Ziel der Hamas. Deshalb haben sie Geiseln genommen und setzen Vergewaltigung systematisch als Kriegswaffe ein. Dass wir nicht genau wissen, wer noch lebt, ist gezielter Psychoterror.
Wie stark spürt man das im Alltag?
Wir haben noch keinen Alltag. Ich hab eine alltägliche Struktur: Ich habe Kinder, muss morgens aufstehen, die Kinder in die Schule bringen. Aber die konstante, emotionale Überforderung ist nach wie vor da. Ich merke das auch im Freundeskreis. Wir sind sehr dünnhäutig, zucken bei gewissen Geräuschen zusammen.
Das klingt fast, als hätte die gesamte Gesellschaft eine Posttraumatische Belastungsstörung.
So ist es auch, in unterschiedlichen Ausprägungen. Wir haben immer noch Glück. Wir haben unsere Wohnung, meinen Kindern geht es gut. Aber viele haben Angehörige verloren, Hunderttausende mussten evakuiert werden und leben immer noch im Hotel. Überall hängen Bilder und gelbe Bänder, die an die Geiseln erinnern. Das Leben kann erst dann weitergehen, wenn unsere Leute wieder zu Hause sind, wir einen Waffenstillstand und Abkommen mit unseren Nachbarn haben, damit wir hier in Zukunft weiterleben können.
Wie bewerten Sie die Politik der Regierung? Am vergangenen Wochenende gab es die größten Proteste seit Kriegsbeginn.
Wir sind irgendwo zwischen Chaos und Verzweiflung. Letztes Jahr gab es monatelange Proteste wegen der geplanten Justizreform. Ich war bei vielen Demonstrationen dabei und wir haben massive Polizeigewalt erlebt. Die Polizei hat Blendgranaten auf Demonstranten geworfen. Israel war bereits an einem Punkt, an dem das Land auseinanderzubrechen schien. Jetzt haben wir die Bedrohung von außen, eine Regierung der wir nicht vertrauen können und mit Benjamin Netanjahu einen Premierminister, dessen einziges Ziel es ist, seine Macht nicht zu verlieren. Deshalb sind manche Kriegs-Entscheidungen für mich persönlich nicht mehr nachvollziehbar. Man fragt sich, ist das nötig? Tut er das, um den Krieg zu verlängern? Eine grauenhafte Situation.
Schwere Vorwürfe. Wie gespalten ist das Land tatsächlich?
Vor dem 7. Oktober: sehr gespalten. Die meisten sind sich einig, dass Netanjahu wegmuss. Aber wie es danach weitergeht, wann es Neuwahlen geben sollte … Das Land ist auch gespalten in der Frage eines Geiseldeals. Eine große Zahl von Leuten sagt, wir müssten alles tun, um die Geiseln zurückbekommen. Koste es, was es wolle. Es gibt aber auch viele die sagen, nicht um jeden Preis. Auch Geiselfamilien haben nun Neuwahlen gefordert, weil sie sagen, diese Regierung steht einem Waffenstillstand im Weg.
Der wachsende Antisemitismus macht mir große Sorgen.
Bei aller Spaltung, aller Unsicherheit, gibt es denn einen gemeinsamen Nenner?
Die Mehrheit der Israelis möchte die Geiseln zurück und einen Rücktritt Netanjahus. Ich würde auch sagen, den meisten Leuten ist klar, dass der militärische Druck in keinem Zusammenhang mehr zu einem potenziellen Waffenstillstand steht. Lange waren viele der Meinung, wenn die Hamas immer mehr unter Druck gerät, sind sie eher bereit, ein Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen. Das war ein Irrglaube. In Gaza sind Zehntausende umgekommen, davon viele Frauen und Kinder. Trotzdem hisst die Hamas nicht die weiße Flagge. Das beweist doch, was für einen Parallelstaat sich diese Terroristen unter der Erde aufgebaut haben.
Haben Sie das Gefühl, dass diese Ambivalenz in anderen Ländern wahrgenommen wird?
Naja. Der wachsende Antisemitismus macht mir große Sorgen. Dieses gruselige Monster hat überall seine Wurzeln geschlagen und schlägt uns wirklich aus jeder Richtung entgegen. Wenn jüdische Frauen in großem Stil vergewaltigt und misshandelt werden vor laufender Kamera, führt das nicht dazu, dass große Frauenbewegungen oder Organisationen sich dazu melden. Das ist erschütternd und sehr bitter.

Verständlich.
Mich enttäuscht auch, dass viele Menschen offenbar glauben, Israelis sind alle Täter. Wir wurden angegriffen. Jetzt werden israelische Künstler boykottiert, in sozialen Netzwerken gibt es antisemitische Propaganda, auf Pro-Palästina-Demonstrationen wird Israelis der Tod gewünscht – und dagegen gibt es kaum Gegenwehr. Ich weiß, es ist schwer, Grautöne auszuhalten. Aber es ist ein asymmetrischer Krieg. Terroristen tragen Zivilkleidung, verstecken sich in Krankenhäusern. Wenn es nach der Hamas ginge, sollte es noch viel mehr Opfer geben, um die Welt gegen Israel aufzubringen.
Mehr als 30.000 Menschen im Gazastreifen sind nach Angaben der Hamas tot.
Wir müssen natürlich über 30.000 Tote sprechen. Wir müssen darüber sprechen, wenn es Kriegsverbrechen in Gaza gibt, dazu gibt es hier auch Untersuchungen. Das wird nicht unter den Teppich gekehrt. Aber die Hamas hat weiter Nahrungsmittel, weiterhin Waffen, sitzt mit unseren Geiseln in sicheren Tunneln und vergewaltigt weiter unsere Frauen. Das geht unter in diesem Diskurs.