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Rezension Wie zehn Karten die Weltpolitik erklären

Der britische Journalist und Außenpolitikexperte Tim Marshall versucht in seinem Buch "Die Macht der Geographie", die Weltpolitik zu erklären, indem er auf Karten schaut. Das gelingt ihm.

Wir leben in Zeiten, in denen Technologie scheinbar die mentalen wie räumlichen Entfernungen zwischen uns leicht vergessen lässt. Doch noch immer ist es der – geographische – Raum, der die mächtigen dieser Welt dazu bringt, Entscheidungen über Krieg und Frieden zu treffen. Das schreibt der britische Journalist und Außenpolitikexperte Tim Marshall im Vorwort seines neuen Buches "Die Macht der Geographie", das dieser Tage bei dtv erschienen ist.

Die Wurzel des Übels

Tatsächlich hat die moderne Technologie Kriegsführung vereinfacht. Bei Drohnenangriffen sitzt der Steuermann Tausende Kilometer entfernt und entscheidet über Leben und Tod. Die USA können in Missouri tief im Mittleren Westen Kampfbomber starten lassen und zu ihren Missionen im Nahen Osten fliegen lassen, ohne dass das Flugzeug einmal landen muss. Doch oft, wenn die Kampfjets aufsteigen oder die Drohnen feuern, liegt die Ursache des Problems in der Geographie verwurzelt.

Schmerzhaft aktuell zeigt Marshall das am Nahen Osten auf. 1916 nahmen die beiden Diplomaten Mark Sykes, ein Brite, und Francois Georges-Picot, ein Franzose, einen Stift und zogen auf einer Karte des Nahen Ostens die Linie, die später als Sykes-Picot-Abkommen in die Geschichte eingehen sollte: Vom Mittelmeer auf Höhe von Haifa im heutigen Israel nach Nordosten bis Kirkuk im Iran. Die Region wurde für den Fall des Osmanischen Reiches in zwei Gebiete aufgeteilt – der Norden unter französischer Kontrolle, der Süden unter britischer.

Davor gab es – ganz grundsätzlich gesprochen – keinen Staat Syrien, keinen Libanon, kein Jordanien, keinen Irak, kein Saudi-Arabien, kein Kuwait, Israel oder Palästina. Das Beispiel zeigt, dass die "willkürliche Schaffung von 'Nationalstaaten' mit Menschen, die es nicht gewohnt sind, in einem Gebiet zusammenzuleben, eben kein Rezept für Gerechtigkeit, Gleichheit und Stabilität" ist, schreibt Marshall. Er beschreibt eines der wichtigsten Videos aus dieser Region aus dem Jahr 2014; ein Bulldozer, der von Kämpfern des IS gefahren wird, schiebt einen hohen Sandwall nieder. Dieser Wall war die einzige physische Grenze zwischen Irak und Syrien und ein Symbol.

Zwischen Europa und Asien und mitten in Russland: Der Ural

Was zwischen Syrien und dem Irak nur aus Sand bestand, ist zwischen Europa und Asien ein ganzes Gebirge: Der Ural. Mitten durch Russland hindurch schneidet das Gebirge das Land in zwei Stücke. 75 Prozent des russischen Staatsgebietes liegen in Asien, dort leben jedoch nur 22 Prozent der Bevölkerung. Es ist das größte Land der Erde, ist elf Zeitzonen weit und hat doch nur 144 Millionen Einwohner, weniger als Nigeria oder Pakistan. Das bietet viel Angriffsfläche, und nicht von ungefähr bezeichnete Präsident Wladimir Putin den Zerfall der Sowjetunion als "größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts".

Wenn es um Geopolitik geht, wird oft von Zeiträumen von mehr als hundert Jahren gesprochen. Putin sieht sein Land nun mit dem Fakt konfrontiert, dass jedes einzelne Mitglied des Warschauer Paktes außer Russland schon 2004, nur 15 Jahre nach 1989, selbst Mitglied der NATO oder der EU geworden ist. Als nun die Führung der Ukraine immer offener dem Westen gegenübertrat, zog Putin die Daumenschrauben an, es ging um lebenswichtige Rohstofflieferungen.

Tim Marshall, "Die Macht der Geographie" (22,90 €), am 20. November 2015 erschienen bei dtv in München

Die damalige ukrainische Regierung schloss einen Pakt mit Moskau, woraufhin die Proteste auf den Straßen immer größer wurden. Die Auseinandersetzungen wurden geschürt, und am Ende annektierte Russland die Krim. Dort, in Sewastopol, befindet sich der einzige russische Hafen, der ganzjährig eisfrei ist, und der ist für Putin immens wichtig. Er bildet über den Bosporus außerdem die einzige – wenngleich (noch) theoretische – Möglichkeit, ins Mittelmeer durchzubrechen.

Und das ist nur eine der vielen strategischen russischen Überlegungen, die Tim Marshall seinen Lesern erklärt. Neben den beiden hier genannten Beispielen erklärt er noch acht weitere Schauplätze der Erde und führt seine Leser so einmal rund um den Globus. So ist "Die Macht der Geographie" ein interessantes Buch für politisch interessierte Leser und bietet einen hervorragenden Überblick über das Thema Geopolitik, das als komplex zu bezeichnen noch untertrieben wäre.

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