Die wahrscheinlich unpopulärste Vision der europäischen Zukunft, die man sich derzeit ausdenken kann, ist die Vollmitgliedschaft armer, nicht-europäischer Länder voll dunkelhäutiger Menschen muslimischen Glaubens. Doch gerade weil diese Vision so viele gängige Ängste, Vorurteile und Feindbilder bedient, ergeben sich Anknüpfungspunkte zum Projekt der europäischen Integration. Schließlich liegt das besondere Kennzeichen des europäischen Einigungswerkes in der aktiven Überwindung von Grenzen und Feindschaften. Grenzüberschreitung ist die innere Logik der europäischen Integration.
Die Eliten hatten es sich im alten Europa gemütlich gemacht
Sichtbar wurde diese innere Logik zuletzt in der weithin als unvermeidlich wahrgenommenen Osterweiterung. Eine Erweiterung um arme Länder mit noch wackliger demokratischer Kultur, die ihre gerade erlangte Souveränität zäh gegen Brüssel verteidigten. Die Osterweiterung war für viele Alt-Europäer eine große Zumutung. Nicht nur für ostdeutsche Handwerker, die sich um Niedriglohnkonkurrenz sorgten. Auch unter Brüssels Politikern und Funktionären rümpfte manch einer die Nase über die Ankunft der Neuen, die nicht so recht ins grünverglaste, klimatisierte Milieu mit seinen etablierten Sprach- und Dresscodes passen wollten. Die Eliten hatten es sich gemütlich gemacht im alten Europa, genau wie viele Bürger. Mit der Brüsseler Behäbigkeit und der eingefahrenen Vertiefungsrhetorik war es im Zuge des Beitritts nachhaltig vorbei.
Zur Person
Jens Steffek, 34, lehrt Internationale Politik an der Universität Bremen. Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs "Staatlichkeit im Wandel" beschäftigt er sich vor allem mit der Legitimität von internationalen Organisationen. Im Herbst erscheint sein neues Buch "Embedded Liberalism and its Critics. Justifying Global Governance in the American Century."
Das neue Ziel: Der Sprung übers Mittelmeer
Die Zumutung der Osterweiterung hat vieles verändert. An eine politische Union glaubt zumindest öffentlich kaum noch jemand, Europas Bürger fremdeln gegenüber den Neuen und bisweilen auch gegenüber der Brüsseler Zentrale. All das wird sich in den nächsten zehn Jahren verschleifen. Der Osten wird sich slowenisieren, seine Eliten werden in die Brüsseler Kompromisskultur hineinsozialisiert und Ryanair wird die Bürger zusammenbringen. In gut zehn Jahren, wenn die Nachwehen der Osterweiterung überstanden sind, wird es Zeit für ein neues, ehrgeiziges Ziel: den Sprung übers Mittelmeer.
Die Ausdehnung nach Süden liegt in der Logik des europäischen Projekts: Überwindung des Krieges durch wirtschaftliche Integration und schrittweise Aushebelung der Grenzen. Das hat in der Vergangenheit so gut funktioniert, dass wir es heute als selbstverständlich annehmen. Wenn wir im Alltag von Sicherheit sprechen, dann meinen wir innere Sicherheit. Die militärische Bedrohung von außen hat ihren Schrecken verloren. Doch nach wie vor ist Europa umgeben von Regionen, in denen Nationalismus, Terror und Krieg zum Alltag gehören.
Schon heute leben 15 Millionen Muslime in der EU
Versteht man den Frieden als die eigentliche Mission des europäischen Zivilisationsprojektes, dann muss uns daran gelegen sein, das Projekt Europa geographisch weiter auszudehnen. Die Türkei braucht die Perspektive der Mitgliedschaft, und die EU braucht die Türkei. Dort kann sie den Beweis antreten, dass sie nicht nur in der Lage ist, Länder zu integrieren, die vom real existierenden Sozialismus und totalitären Regimen zerrüttet waren. Sie kann zeigen, dass sie in der Lage ist, auch die muslimische Welt einzubeziehen. Bereits heute leben schätzungsweise 15 Millionen Muslime in der EU. Als Gruppe genommen sind sie zahlreicher als die Bevölkerung von 18 der 25 EU-Mitglieder. Ihre Integration fiele leichter, würde man ihre Herkunftsländer nicht als potenzielle Feindstaaten betrachten, sondern als potenzielle Mitglieder im Club.
Europas gesellschaftliche Realität hat sich durch Migration und Mobilität immer weiter von den Traditionen gelöst, die angeblich eine europäische Identität ausmachen. Es wäre gerade vor diesem Hintergrund ebenso absurd wie gefährlich, den muslimischen Orient als Feind oder zumindest "den anderen" zu konstruieren. Vielmehr muss sich die EU dieser Welt öffnen und ihr zumindest mittelfristig die Möglichkeit schaffen, Teil des Clubs werden zu können. Die nordafrikanischen Mittelmeeranrainer sind mögliche Beitrittskandidaten des Jahres 2030, ebenso der Libanon. Marokko möchte bekanntlich seit zwei Jahrzehnten gerne Mitglied werden. Sollte es eines Tages gelingen, Israel und Palästina gemeinsam in die EU zu holen wäre dies der vielleicht größte vorstellbare Erfolg des Modells Europa.
Das alles wäre dann nicht mehr Europa
Das alles wäre dann nicht mehr Europa, werden viele sagen, die historisch-geographische Identität des Einigungswerks würde zerschmelzen. Tod durch Überdehnung, wie ihn die Kritiker des Türkeibeitritts prophezeien. Dagegen gibt es zwei Argumente: erstens sind die südlichen Grenzen Europas längst im Fluss. Mit Zypern hat die EU bereits einen Staat aufgenommen, der geographisch zu Asien gehört. Zweitens wird das Überdehnungs-Argument fragwürdig, wenn man Europa nicht als Imperium, sondern als zivilisatorisches Projekt begreift, das auf universalisierbaren Werten beruht - Achtung der Menschenrechte, Demokratie, Marktwirtschaft, Trennung des Staates von Religion und Militär. Die EU muss diese Werte nach außen so offensiv vertreten wie nach innen.
Für eine Öffnung Europas nach Süden gibt es aber nicht nur idealistische, sondern auch realpolitische Argumente: strategische Erwägungen, Energieressourcen, interessante Märkte, in denen die Wirtschaft schneller wächst als im vergreisenden Alteuropa. Selbstverständlich gibt es Hindernisse und Probleme, die man weder übersehen noch wegdiskutieren darf: politische Instabilität, Armut, autoritäre Regime und undemokratische Traditionen. Gerade hier könnte jedoch die Beitrittsperspektive helfen. Europa ist nach wie vor ein privilegierter Club, und kann klare Bedingungen für die Mitgliedschaft stellen: die genannten Grundwerte und -freiheiten stehen nicht zur Disposition.
Europa hat an seiner Südgrenze die einmalige Chance, den Kampf der Kulturen abzuwenden und das eigene Gesellschaftsmodell, die eigenen liberalen Werte, dem zunehmend einflussreichen Islamismus entgegenzustellen. Es wäre deshalb fatal, die Tür nach dem Beitritt einiger Balkanländer zuzuschlagen und den Club für komplett zu erklären. Europa ist ein Projekt mit offenem Ausgang, eine permanente Baustelle und eine stets unfertige Union. Die Idee Europa kennt keine endgültigen Grenzen, sondern lebt von ihrer Überwindung.