"Wir drehen seit Wochen Kreise um Khan Younis", sagte der Zugführer der israelischen Armee Mitte Januar. "Die militärische Führung wartet auf einen Plan der Politik. Aber es gibt keinen."
Dann eroberte Israel die zweitgrößte Stadt des Gazastreifens. Dutzende israelische Soldaten fielen in den wochenlangen Kämpfen. Wohl einige Tausend Kämpfer der Hamas wurden getötet, aber auch Hunderte Zivilisten, bis zu 8000 werden bis heute unter den Trümmern von Khan Younis vermisst.
Dann, Anfang April, zog Israel seine Truppen über Nacht aus der Stadt ab. Viele Bewohner kehrten zurück. Und im Schutz der Zivilisten auch die Hamas.
"Warum kontrollieren wir nicht, wer nach Khan Younis zurückkommt?", fragte derselbe IDF-Zugführer nach dem Abzug. "Das ist ein großer Fehler." Nicht zum ersten Mal erschien ihm und seinen Männern der Krieg, den sie kämpfen mussten, fahrlässig planlos. Wozu all die Opfer, wenn Israel der Hamas am Ende wieder das Feld überließ?
Wozu all die Opfer?
Es ist diese fahrlässige Planlosigkeit der israelischen Führung unter Premierminister Benjamin Netanjahu, die nun, nach über sieben Monaten Krieg, dazu führt, dass selbst der engste Verbündete von ihr abzurücken beginnt.
Schon Anfang April hatte Joe Biden einen Kurswechsel Netanjahus im Gazakrieg angemahnt: besseren Schutz für Zivilisten, mehr humanitäre Hilfe – und vor allem einen politischen Plan, wie eine Rückkehr der Hamas an die Macht nach Ende des Kriegs zu verhindern wäre. "Wir werden euch sonst nicht mehr unterstützen können", hatte Joe Biden damals in einem Telefonat mit Netanjahu gewarnt.
Doch Israels Premier blieb, abgesehen von humanitären Gesten, seiner kompromisslosen Linie treu: Militärische Härte, gepaart mit einer Absage an einen künftigen Palästinenser-Staat, an jeden Gedanken für den Aufbau einer eigenständigen zivilen Ordnung im Gazastreifen.
Hohles Gerede vom totalen Sieg
Doch das Gerede von einem totalen militärischen Sieg über die Hamas ist hohl geworden.
Weil die angeblich in den Tunneln unter Rafah verschanzten letzten Hamas-Bataillone so womöglich gar nicht existieren. Warum sollten die Terroristen dort in so großer Zahl ausharren und ein leichtes Ziel abgeben, wenn sie sich doch seit Wochen unter die Zivilisten mischen und wieder über Rafah, Khan Younis und andere Orte verteilen konnten?
Angesichts zahlreicher neuer Hamas-Angriffe in angeblich von Israels Armee gesäuberten Gebieten wird immer deutlicher: Die Miliz ist zwar geschwächt, doch militärisch wird die Bedrohung durch die Hamas für Israel nicht vollständig zu eliminieren sein, solange es keine palästinensischen Strukturen gibt, die sich dem Terror wirksam entgegenstellen können.
Wer die Hamas besiegen will, muss eine Alternative zur Hamas fördern, statt sie zu verhindern.
Mit seiner Weigerung, US-Waffen für eine Invasion von Rafah an Israel zu liefern, lässt Joe Biden seiner Warnung vom April Taten folgen. Amerika ist vorerst nicht mehr bereit, einen Krieg zu unterstützen, der zum Selbstzweck geworden ist und keine Perspektive auf einen "Day After" erkennen lässt. Auf eine tragfähige Nachkriegsordnung, ohne die Sicherheit und Frieden weder für Israel noch für die Palästinenser zu gewährleisten sein wird.
Israel steckt in der Sackgasse
Kein US-Präsident hat Israel je so unterstützt wie Joe Biden. Dass gerade dieser Präsident – aus Fürsorge für Israel – nun weitere Waffenlieferungen zurückhält, zeigt: Israels Regierung hat sich in eine Sackgasse manövriert.
Als wäre das nicht schon offenkundig genug, schreibt Itamar Ben-Gvir, Netanjahus Minister für nationale Sicherheit, auf X (früher Twitter): "Biden liebt Hamas." Seine Polizisten verprügeln derweil auf den Straßen Israels demonstrierende Angehörige der Hamas-Geiseln, die wollen, dass die eigene Regierung endlich einen Deal zur Befreiung ihrer Angehörigen schließt. Einen Deal, zu dem auch die US-Regierung Israel rät.
Tage des Innehaltens
Kommende Woche begehen die Menschen in Israel zwei wichtige Gedenktage: den Tag des Andenkens an die Gefallenen der Armee und die Opfer des Terrorismus und, gleich danach, den Unabhängigkeitstag. Diese Tage sind in Israel traditionell Anlass zum persönlichen, aber auch zum kollektiven Innehalten. Im Jahr eins nach dem verheerendsten Massaker an Juden seit dem Holocaust wird das umso mehr so sein.
Eine gute Gelegenheit für Israels Führung – nicht nur für den Premierminister, sondern auch für die Mitglieder des Kriegskabinetts – dem eigenen Volk zu erklären, warum der Krieg im Gazastreifen nicht so weitergehen kann wie bisher.