Regierungskrise in Großbritannien Und nach ihr die Sintflut: Truss' Nachfolger steht vor riesigen Herausforderungen

Downing Street 10
Nachmieter gesucht: Die scheidende Premierministerin Liz Truss übergibt ihren Sitz in der Downing Street 10 alles andere als besenrein
© Isabel Infantes / AFP
In zehn Tagen soll Liz Truss ersetzt – und aus Tory-Sicht wohl am liebsten vergessen sein. Der Heilungsprozess möge beginnen. Doch wer auch immer die Nachfolge als britischer Premier antritt, steht vor Mammutaufgaben.

Ein Gedankenspiel: Es ist der 31. Oktober, die Tories haben es trotz traditioneller Ellenbogenmentalität fertig gebracht, sich auf einen Nachfolger für die krachend gescheiterte Liz Truss zu einigen. Wie geht es jetzt für Premier Nummer drei in diesem Jahr weiter?

Um diesen Job, um dieses Erbe in Trümmern, ist der Premier in spe schon jetzt nicht zu beneiden. "Wer auch immer gewinnt, verliert", titelt das US-Nachrichtenportal "Bloomberg" sehr treffend. Ein Überblick über (einige) der größten Herausforderungen des neuen Premier. 

Das Erbe der "Trussonomics": ein wirtschaftliches Trümmerfeld

Was jetzt bevorstehe sei "ein Sprung ins Ungewisse", so Antoine Bouvet, Zinsstratege bei der ING-Bank, gegenüber der "New York Times" (NYT). Das ist wohl noch milde ausgedrückt, bedenkt man, in welch desolatem Zustand Truss die Downing Street ihrem Nachfolger übergeben wird: Die Inflation liegt inzwischen bei mehr als zehn Prozent, die Lebensmittelpreise sind seit vier Jahrzehnten nicht mehr so schnell gestiegen, die Löhne kommen nicht hinterher, zeitgleich steigen die Zinsen. Besenrein sieht anders aus.

Dabei hatte hatte Truss, die als Premierminister mit der kürzesten Amtszeit immerhin ihren Platz in den Geschichtsbüchern sicher hat, für all das eine Lösung versprochen. Die hieß: Steuersenkungen. Und zwar massive. Wie die NYT anmerkt, erinnerte ihre "Trussonomics" im Kern stark an die sogenannte Trickle-Down-Ökonomie der 1980er-Jahre, die "auf der Überzeugung beruhte, dass Steuersenkungen für die Wohlhabenden gerecht seien und zu Investitionen und Wirtschaftswachstum führen würden, die allen zugute kämen".

Das Problem an der Sache: Als ihr Ex-Finanzminister Kwasi Kwarteng die entsprechenden 45 Milliarden Pfund-Pläne vorstellte, blieb er die Antwort auf die wichtigste Frage schuldig: Wie sollten die Kredite finanziert werden? Dass das Vorhaben zudem nicht unabhängig geprüft war, straften die Märkte gnadenlos ab – das Pfund fiel auf ein Rekordtief, Renditen von Staatsanleihen schossen in solche Höhen, dass die Zentralbank eingreifen musste, um die Rentenfonds zu retten. Kurzum: Die finanzpolitische Glaubwürdigkeit schmolz im Gleichschritt mit Truss' bescheidenen Zustimmungswerten. "Es dauert Jahre, um einen Ruf aufzubauen, und einen Tag, um ihn wieder zunichte zu machen", sagt Bouvet der NYT. Die britische Volkswirtschaft zu so etwas wie Stabilität zu verhelfen, wird das wohl drängendste als auch schwierigste Projekt für Truss' Erbe sein. Kwartengs Nachfolger Jeremy Hunt tat, was getan werden musste, besiegelte damit jedoch endgültig den Niedergang seiner Chefin: Er ruderte mit voller Kraft zurück. 

Vom Truss'schen Schock hat sich die Wirtschaft allerdings noch lange nicht erholt. Hunt will alsbald einen "mittelfristigen Finanzplan" vorstellen. Seine Ergebnisse will er passenderweise an Halloween präsentieren. Immerhin werde der Finanzminister das Ganze diesmal unabhängig prüfen lassen. Doch selbst dann, so die NYT, bleibt eine Baustelle offen. Experten fragen sich, wie Hunt die "schwierigen" Ausgabenkürzungen, die er vorab angekündigt hat, durchbringen will – schließlich gebe es kaum Spielraum in den bereits bis an die Grenzen kleingesparten Ministerien. Das wiederum schüre die Befürchtungen, dass ähnlich extreme Sparmaßnahmen wie zu Zeiten der Finanzkrise 2008 bevorstehen.

Dies zu verkaufen, dürfte angesichts der horrenden Lebensmittelpreise vom neuen Premier nicht weniger als ein rhetorisches Meisterwerk abverlangen. Wie Wirtschaftsexperte Chadha gegenüber der US-Zeitung erklärt, müsse als allererstes das Debakel der ungedeckten Steuersenkungen vollständig rückgängig gemacht und ein Plan zur Unterstützung der Haushalte vorgelegt werden. Das könnte es nötig machen, dass Hunt am Ende dabei mehr zu sagen hat als Truss' Nachfolger. "Solange Großbritannien keinen Weg findet, wirtschaftlich voranzukommen, wird seine globale Rolle gefährdet sein", meint auch Frances Burwell von der US-Denkfabrik "Atlantic Council".

Gleichzeitig prognostizieren Analysten der britischen Wirtschaft im kommenden Jahr ein deutlich geringeres Wachstum – was wiederum den Spielraum der Zentralbank einschränkt und im Umkehrschluss dringend nötigen Investitionen einen Riegel vorschiebt. Ja, der dritte Premierminister in diesem Jahr muss schwerste ökonomische Aufräumarbeiten leisten. Selten strahlte das Scheinwerferlicht greller auf die Downing Street, selten waren die Startbedingungen für einen neuen Regierungschef ungünstiger. "Die Angst, ihre [Truss'] Fehler zu wiederholen, wird nicht nur den Ehrgeiz des nächsten Vorsitzenden […] einschränken", sagt Ben Judah vom "Atlantic Council". 

Premier von Tories' Gnaden

Nicht nur wirtschaftlich hinterlässt Truss einen Trümmerhaufen. Auch ihre Partei dürfte sich von dem Debakel ihrer historisch kurzen Amtszeit nicht so schnell erholen. Dass die Konservativen wegen fehlender demokratischer Legitimität auf ihr Recht verzichten und stattdessen Neuwahlen ausrufen, haben sie bereits ausgeschlossen. Aus gutem Grund. Denn Umfragen zufolge würde Labour derzeit haushoch gewinnen, die Tories verlören Hunderte Sitze.

Und so muss eines klar sein: Truss' Nachfolger wird, (wieder einmal) kein Premier von Volkes Gnaden. Sollten sich die Tories nicht schnell auf einen Parteichef einigen, müssten die rund 170.000 Parteimitglieder einen neuen Premier bestimmen – das entspräche allerdings dem Willen von nicht einmal 0,4 Prozent der wahlberechtigen Bevölkerung. Zudem war es diese elitäre Minderheit (in der Regel wohlhabender und älter als der Durchschnittsbrite), die Truss überhaupt erst ins Amt gehievt haben, wie das Nachrichtennetzwerk "Conversation" anmerkt. Viel könne man ohnehin nicht mehr von den Konservativen erwarten, "aber die Denkarmut der Parteiführung fällt auf", so das Magazin. Die Vergangenheit diene der Partei "nicht als hilfreicher Wegweiser für die Zukunft, sondern als Zielpunkt". Mit anderen Worten: Man erwartet wenig und wird trotzdem enttäuscht. Wer auch immer von den Abgeordneten oder der Parteibasis diesmal präsentiert wird, muss mit noch geringerem Zuspruch die Fugen eines tief gespaltenen Landes kitten.

Bereits jetzt gehen sich, so berichtet die US-Nachrichtenagentur AP,  die zahlreichen Tory-Fraktionen, von strengen Brexit-Befürwortern bis hin zu zentristischen "One-Nation-Tories", gegenseitig an die Gurgel. "Niemand hat einen Plan, wie es weitergehen soll. Es ist ein täglicher Kampf von Hand zu Hand", sagte der konservative Abgeordnete Simon Hoare am Donnerstag vor Truss' Rücktritt gegenüber der BBC. Die zerstrittene Partei zu befrieden, dürfte also gleich die zweite Herkulesaufgabe für den neuen Premier werden. Das fiele logischerweise deutlich leichter, wenn sich die Abgeordneten geschlossen hinter einen Kandidaten stellen. 

Doch nicht nur parteiintern wird der neue Regierungschef die Wogen glätten müssen. Das politische Chaos und parlamentarische Stühlerücken, das im Prinzip seit dem Brexit das Tagesgeschäft erschwert, hat die Glaubwürdigkeit des Königreichs weit über die Landesgrenzen hinaus beschädigt. "Großbritannien mag eine Insel sein, aber es ist nicht allein. Europa und das Vereinigte Königreich brauchen einander, und sie brauchen Konzentration und politischen Willen, um eine produktive Beziehung aufzubauen", fasst es der "Atlantic Council" zusammen.