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Henning Mankell Die Toten im Zuckerrohrfeld

Eines der großen Themen des G-8-Gipfels war die Not in Afrika. Bestsellerautor Henning Mankell reiste für den stern durch den Kontinent und beschreibt, wie ihn das Elend der Menschen und ihr Kampf gegen die Seuche Aids berühren. Ein Hilferuf in sechs Kapiteln.
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt

1. Der erste Mensch, den ich an Aids sterben sah, war ein junger Afrikaner in dem entlegenen Ort Kabompo, hoch oben in der nordwestlichen Ecke von Sambia, nicht weit von der Grenze zu Angola. Er stieg aus einem Bus, der ihn den weiten Weg von der Hauptstadt Lusaka zurückgebracht hatte. Jetzt sollte er sterben. Er sank vor dem Bus zu Boden, ausgemergelt, entkräftet. Es war im Herbst 1986. Ich erinnere mich noch, dass seine Mutter und einige Geschwister ihn mit einer Schubkarre nach Hause fuhren, deren Gummirad keine Luft hatte. Es war wie das Fragment eines Höllengemäldes von Breughel.Vor einigen Monaten reiste ich nach Afrika mit dem Gefühl, mir etwas Unmögliches vorgenommen zu haben. Ich wollte über Aids schreiben. Doch wie konnte ich über die Aids-Katastrophe in Afrika südlich der Sahara schreiben, ohne dass die Menschen die Seiten überschlugen? Wie konnten Peps Bilder und mein Text Leser fesseln, die am liebsten nichts mehr wissen wollen? Die all der ausgemergelten, sterbenden Menschen, all der überfüllten Friedhöfe überdrüssig sind, all dieser verlassenen Kinder, deren Eltern gestorben sind?

Die Aids-Katastrophe liegt in unserer Verantwortung

Es gibt zwei Voraussetzungen für unsere Solidarität: Die erste ist die Kenntnis dessen, was geschieht. Die zweite ist die Einsicht, dass auch das, was in fernen Ländern geschieht, uns angeht. Wir müssen uns entscheiden, trotz allem das, was wir sehen, zu sehen, und es wagen, uns ihm zu stellen. Die Aids-Katastrophe liegt in unser aller Verantwortung, auch wenn wir Westeuropäer kaum mehr an dieser Krankheit sterben. Aber das Wort und der Begriff Solidarität weckt heute bei vielen Menschen Zweifel. Das Ausmaß der Aids-Katastrophe ist so schwindelerregend, dass viele sich nur noch abwenden können. Vielleicht werfen sie ein paar Euro in eine Sammelbüchse. Aber zu mehr reicht es kaum noch. Mit den Gedanken an sie begann meine Reise. Und mit dem Bild in meiner Erinnerung: der junge Mann, der mit einer Schubkarre weggefahren wurde, deren Gummireifen platt war.

2.

Ich erkenne, dass diese Reise auch von mir selbst handelt. Wie hat sich mein Bewusstsein in Bezug auf diese Seuche in all den Jahren, die ich in Afrika gelebt habe, verändert? Wie haben mich all die Menschen, die ich vorzeitig sterben gesehen habe, beeinflusst? Wann hörte ich zum ersten Mal von Aids? Es muss um 1983 gewesen sein. Damals war noch alles unklar. Menschen erkrankten auf seltsame Weise: hauptsächlich - so schien es damals - homosexuelle Männer. Die neue Pest, die über uns gekommen war, hatte etwas Erschreckendes, Schleichendes. Zunächst sprach niemand von Afrika. Später zeigte sich die schreckliche Wahrheit: Ein Virus war in der menschlichen Arena aufgetreten, dessen Eigenschaften Ärzte und Forscher frösteln ließ. Es handelte sich um ein Virus, das sich mit unseren Genen vereinigte und deshalb kaum zu besiegen war. Ein Virus mit überlegenen Strategien, sich zu verstecken und sich zu verändern. Und als Nebenwirkung tötete dieses Virus langsam sein Wirtstier, den Menschen. Die Krankheit begann, Gesichter zu bekommen. Aus dem bedrückenden Album meiner Erinnerungen wähle ich hier das schöne mosambikanische Mädchen Rosa, das mit 17 Jahren starb. Da war Rosa nicht mehr schön. Ausgemergelt, von Wunden übersät, lag sie auf einer Bastmatte auf dem Fußboden, eine Kerze neben sich, und sollte bald sterben. Es war das letzte Mal, dass ich sie sah. Ihre Verzweiflung war stumm, meine ebenso. Ich weinte, als ich sie damals verließ. Hauptsächlich vor Zorn. Denn die schöne Rosa hatte nie eine Chance gehabt. Sie war Analphabetin, und arm. Undenkbar, dass sie jemals von Virus- Blockern auch nur gehört hatte. Bestenfalls hätte ihr ein Aspirin gegeben werden können. Sie starb.

Der schwarze Fluss durchströmt mich

Wie steht es um meine eigene Verantwortung? Die Verantwortung eines Menschen, der mehr weiß. Tue ich, was ich kann, oder tue ich zu wenig? Ich glaube, man kann diese Fragen damit beantworten, dass man zwei Gesetze formuliert: "Wie viel wir auch tun in Bezug auf die Aidsfrage, es wird immer zu wenig sein." "Wie viel wir auch tun, wir werden es immer zu spät tun." In Josef Conrads Roman "Herz der Finsternis" reist die Hauptperson einen dunklen afrikanischen Fluss aufwärts, einem unbekannten Landesinneren entgegen. Ich habe das Gefühl, dass dieser schwarze Fluss gerade jetzt durch mich strömt.

3. Es ist Winter, als wir in Johannesburg landen. Nach kurzem Weiterflug nach Durban fahren wir im Auto durch die Provinz Natal, einen Teil dieses Kontinents, in dem Aids besonders schlimm wütet. Die Luft ist kühl, der Himmel klar, das Gras graubraun. Wir verlassen die Hauptstraße und bleiben in Eshowe. Dort gibt es ein Hotel, in dem meine Zimmertür kaum zu schließen ist. Das Mischlingsmädchen an der Rezeption zeigt ein breites Lächeln und bedeutet mir mit frierenden Armen, dass es kalt ist. Am folgenden Tag, es ist immer noch kalt, fahren wir durch Zuckerrohrfelder zum Holy Cross Aids Hospice. Es liegt in Emoyeni, tief im Inneren von Natal. Aus dem Nichts hat die katholische Nonne Priscilla hier eine Einrichtung aufgebaut, wo Aidskranken die Möglichkeit zu einem würdigen Sterben gegeben wird. Doch man verwendet ebenso viel Kraft darauf, sich der ständig wachsenden Anzahl elternloser Kinder anzunehmen. Schwester Priscilla ist 58 Jahre alt. Kraftvoll, energisch. Sie lacht, hat Humor. Ich erkenne schnell, dass sie nicht von einem mystischen Gotteserlebnis angetrieben ist. Ihr Lebensweg in Kürze: Als sehr junges Mädchen sah sie einmal einige Nonnen.

Zwischen den Halmen liegen die Toten

"Sie waren wie lebende Puppen" sagt sie. "Puppen, die sprachen und vor denen die Menschen Respekt hatten. Ich wollte eine von ihnen werden. Als ich 15 wurde, näherte ich mich den Nonnen. Ich habe es nie bereut. Mit 24 wurde ich selbst Nonne." Seitdem sind 33 Jahre vergangen. Während dieser Zeit hat sich das Südafrika der Apartheid zu einem demokratischen Staat gewandelt, in dem der Rassismus, wenn nicht ausgerottet, so doch im Verschwinden begriffen ist. Doch Priscilla nimmt kein Blatt vor den Mund, als sie von der Habgier spricht, die jetzt um sich greift. Während sie Nelson Mandela nahezu als einen Heiligen betrachtet, übt sie an der gegenwärtigen Staatsführung überaus harsche Kritik. "Sie nehmen die Leiden ihres eigenen Volkes nicht ernst. Immer noch sterben Menschen draußen in den Zuckerrohrfeldern. Wir finden sie, wenn das Zuckerrohr geerntet wird. Zwischen den Halmen liegen die Toten." Wir sitzen in ihrem kleinen spartanischen Büro. Es ist leicht, mit ihr zu reden. Ich bemerke, dass sie einen Ehering trägt. Als ich danach frage, antwortet sie mit einem Lächeln: "Der Ring symbolisiert mein Verhältnis zu Gott. Sonst nichts." Obwohl sie die Fragen, die ich ihr stelle, schon viele Male gehört haben muss, wirkt sie nicht ungeduldig. Eine meiner ersten Fragen ist selbstverständlich. Aber ihre Antwort trifft mich hart. Ich frage nach all den jungen Menschen, die sich mit HIV infizieren, oft bei ihrem ersten Geschlechtsverkehr. Was geschieht, wenn sie erfahren, dass sie angesteckt sind?

"Sie nehmen sich das Leben. Ein Teil von ihnen hängt sich auf. Aber üblicher ist es, dass sie Pflanzenschutzmittel trinken und ihre Kehlen und Eingeweide verätzen. Sie erleben es als Todesurteil. Sie sehen keine Zukunft vor sich, es gibt keine Hilfe. Sie bringen sich um. 15-Jährige, 16-Jährige. Ich habe gehört, dass viele unmittelbar nach der Bestätigung, dass sie angesteckt sind, den Entschluss fassen, sich zu töten. Manche gehen direkt vom Arzt in die Farbenhandlung und kaufen das Pestizid, oder sie suchen ein Seil und hängen sich an einem Baum auf." Ein Seil und eine Flasche mit Pestiziden: schockierende Bilder. Wenngleich Südafrika im afrikanischen Maßstab ein reiches Land ist, wird auch hieran der große Unterschied zwischen einer reichen westlichen Welt und einem armen afrikanischen Kontinent deutlich. Junge Menschen in Deutschland, die vom Arzt einen positiven HIV-Bescheid erhalten, suchen heute wohl kaum nach einem Seil und kaufen auch keine Flasche mit Pflanzenschutzmitteln, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ich will den Schock und die Qual nicht infrage stellen, aber es bleibt ihnen trotz allem ein Leben, das weitergeht. Am selben Tag, an dem Priscilla von den Selbstmorden unter den jungen Menschen erzählt hat, besuchen wir den Kindergarten, den sie in ihrer Einrichtung unterhält. Kleine Kinder tanzen zusammen mit einem lächelnden jungen Mann namens Sam. Er ist Musiktherapeut, wenn er nicht als Musiker arbeitet. Die Musiktherapie versucht, den Kindern Lebenskraft zurückzugeben, durch ein kleines bisschen Freude.

Alle Kinder sind HIV-infiziert und/oder elternlos. Luyanda ist zwei Jahre alt. "Ich habe sie noch nie lächeln sehen", sagt Priscilla. "Geschweige denn lachen." Dann zeigt sie auf die vierjährige Silungusiea. Sie trägt einen grünen Pullover. "Sie sind Geschwister", sagt Priscilla. "Es gibt nichts Schlimmeres, als kleine, kleine Kinder zu sehen, die schon bitter geworden sind." Priscilla sorgt dafür, dass sie täglich drei Mahlzeiten erhalten. Im Moment betreut sie 94 Kinder. Doch ihr Tätigkeitsbereich umfasst auch regelmäßige Besuche bei Familien, die oft nur aus Kindern bestehen oder vielleicht Kindern mit einer Großmutter oder einem Großvater, weil die Eltern gestorben sind. Sie erhalten Essen und Hilfe dort, wo sie wohnen. Zurzeit kann Priscilla 500 Haushalte unterstützen, die von Kindern geführt werden, und deren Gesamtkinderzahl ungefähr 1500 ausmacht. Was sie nicht sagt, ist, dass die Hilfe, die sie geben kann, natürlich nur ein Tropfen ist verglichen mit dem unaufhaltsam anschwellenden Meer an Hilfsbedürftigkeit.

Mehr malawische Ärzte in Manchester als in Malawi

Als ich herkam, nahm ich mir vor, keine Zahlen und keine Statistik zu benutzen. Aber ganz lässt es sich nicht vermeiden. Um das Ausmaß der Katastrophe zu beschreiben, ist es jedoch nicht nötig, die Menschen zu zählen, die sich in jeder Minute, fast in jeder Sekunde infizieren, oder auch nur diejenigen, die sterben. Schon die Tatsache, dass es heute allein in Südafrika mehr als eine Million elternloser Kinder gibt, bedeutet, dass die Zahlen ihren Sinn verlieren, zumindest wenn es um ein tiefer gehendes Verständnis geht. Man kann nicht die Augen schließen und in seinem Bewusstsein eine Million Kindergesichter - jedes in seiner Einzigartigkeit - Revue passieren lassen. Doch es gibt auch andere Zahlen, die nicht nur vom Ausmaß der Katastrophe erzählen, sondern in ebenso hohem Grad von den brutalen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, dass man in einem armen Entwicklungsland lebt. Eines der Länder im südlichen Afrika ist Malawi. Es ist ebenso schwer von Aids betroffen. (Natürlich auch von Malaria, Lungenentzündungen, Durchfallerkrankungen.) Im Moment ist es aber so, dass es in der englischen Stadt Manchester mehr malawische Ärzte gibt als in ganz Malawi. Was besagt das? Oder nehmen wir ein anderes Land in der gleichen Region, Sambia. Nach der Selbstständigkeit 1964 hat das Land es geschafft, die Ausbildung von 600 Ärzten zu finanzieren und durchzuführen. Von diesen sind heute noch 50 im Land tätig. Der Rest ist emigriert, vorzugsweise nach Europa.

Natürlich kann ich dem einzelnen Arzt keinen Vorwurf machen. Das Gehalt, das er in Sambia bekommen könnte, ist verschwindend niedrig im Vergleich zu seinen Verdienstmöglichkeiten in der westlichen Welt. Oder, um zu Malawi zurückzukehren: Für einen Tag Überstundenarbeit erhält eine englische Krankenschwester eine höhere Vergütung als das, was ihre malawische Kollegin in einem ganzen Monat verdient. Natürlich kann man einwenden, dass die Lebenshaltungskosten in England höher sind als in Malawi. Aber die Krankenschwester in Malawi muss vermutlich von ihrem Lohn 15 Personen miternähren. Armut und Ausbeutung hängen immer zusammen. Der Arme hat kaum irgendwelche Alternativen, der Gierige nimmt seine Möglichkeiten wahr. Dass beispielsweise England zeitweise bis zu 3000 afrikanische Krankenschwestern jährlich ins Land holte, sagt nicht nur etwas darüber aus, wie es in der Welt aussieht, sondern auch darüber, warum die Aids-Katastrophe im südlichen Afrika als vollkommen außer Kontrolle geraten betrachtet werden kann.

Wer soll wen am Ende pflegen?

Aber dies ist keine zwingende Entwicklung. Wir in der reichen Welt könnten dadurch einen bedeutenden Beitrag leisten, dass wir einem Teil des afrikanischen Krankenhauspersonals ordentliche Löhne bezahlen, damit sie im Land bleiben. Was die meisten natürlich wollen. In vielen afrikanischen Ländern ist das Gesundheitswesen bereits zusammengebrochen. Bald wird man die Frage stellen müssen: Wenn die Hälfte der in einem Krankenhaus liegenden Patienten an Aids oder damit zusammenhängenden Krankheiten leidet und auch die Hälfte des Pflegepersonals erkrankt ist - wer soll dann wen am Ende pflegen? Es entsteht ein Niemandsland, wie zwischen zwei Fronten, der Front des Virus und der des Widerstands. In diesem Niemandsland sind Menschen wie Priscilla Dlamini von entscheidender Bedeutung. Ohne ihren und den Einsatz anderer wäre der Zusammenbruch total. Noch einmal Priscilla: "Für die jungen Toten, die sich in ihrer Verzweiflung aufhängen oder Pflanzenschutzmittel trinken, sind alle verantwortlich. Diese Verantwortung erstreckt sich weit über die Grenzen dieses Landes hinaus. Solange die reiche Welt nicht bereit ist, ihre volle Verantwortung zu übernehmen, werden weiterhin Körper an den Bäumen hängen oder mit den leeren Flaschen neben sich in den Zuckerrohrfeldern liegen." Während ich dies schreibe, mehrere Monate nach der Reise, gehe ich meine Aufzeichnungen durch. Hat sie das wirklich so gesagt? Oder hat sie es nur gedacht? Ich weiß es nicht. Doch die Worte könnten auch meine sein. Deshalb schreibe ich sie.

4. Am Tag danach besuchen wir Mtuzini. Überall sind wir von endlosen Zuckerrohrplantagen umgeben. An einem steilen Abhang halten wir an. In einem kleinen Haus an der Straße lebt Nkogo. Sie ist Großmutter und weiß nicht genau, wie alt sie ist. Das Haus hat Priscilla ihr beschafft. Es ist eines von zahlreichen Fertighäusern, die sie von einem holländischen Unternehmen bezogen hat. Jedes Haus kostet 3000 Euro. In diesem hier wohnt Nkogo mit vier Enkelkindern. Ihre Tochter, die Mutter der Kinder, starb im Jahr 2000, der Vater im Jahr danach. Jetzt leben die Kinder mit ihrer Großmutter zusammen. Purity ist mit 17 Jahren die Älteste, das jüngste ist Maxwell, ein Elfjähriger. Sie leben von dem wenigen, das die Großmutter als staatliche Rente bezieht. Ich denke: So sieht das unnatürliche Leben aus. In vielen Teilen der Welt, nicht nur in Afrika, bringt Aids heutzutage den natürlichen Lauf der Generationen in Unordnung: Die Älteren sterben, die Jüngeren übernehmen. Hier ist Aids ein fürchterfürchterlicher Keulenschlag mitten zwischen die Generationen. Die Eltern, oft jung oder zumindest in ihrer aktivsten Lebensphase, sterben. Die Kinder sind entweder auf sich selbst angewiesen, oder sie scharen sich um einen älteren Menschen, wie in diesem Fall Nkogo, die nicht weiß, wie alt sie ist.

Ihre Mittel sind begrenzt

Ohne Priscilla hätten sie nur eine elende Hütte. In dem Haus, das sie ihnen beschaffen konnte, sind sie wenigstens vor den kalten Winden geschützt. Wenn Nkogo stirbt, werden die Kinder weiter im Haus wohnen können. Priscilla wacht darüber, dass keine ungebetenen Gäste auftauchen und den verwaisten Kindern Häuser wegnehmen. Sie haben also ein Dach über dem Kopf. Außerdem verteilt Priscilla an gewisse Familien, die größere Not leiden als andere, Pakete mit Nahrungsmitteln. "Wie unterscheidet man verschiedene Stufen von Elend?", frage ich. Priscilla antwortet nicht, schüttelt nur den Kopf. Sie unterscheidet also nicht. Ihre Mittel sind begrenzt. Die Zahl der Essenspakete ist immer kleiner als die der Bedürftigen. Bevor wir weiterfahren, wendet Nkogo sich der Sonne zu. Ihr Gesicht wird auf einmal sehr deutlich. Wie schön sie ist, denke ich. Es gibt eine besondere Art von Schönheit, die nur in den Gesichtern sehr alter Frauen sichtbar wird. Als seien die ganzen Mühen ihres Lebens, aber auch die Freuden, in alle Falten eingeritzt, wie Ablagerungen in Gesteinsformationen. Wir fahren weiter. Ich frage Priscilla, wie oft sie solche Besuche wie den bei Nkogo macht. "Ich bin fast ständig unterwegs." "Aber Sie können doch nicht alle Menschen, denen Sie helfen, selbst besuchen? Sie müssen sich doch auch um Ihr Hospiz kümmern. Und dann nehmen Sie sich zuweilen noch Zeit für Menschen wie mich." "Ich habe ungefähr 200 Freiwillige ausgebildet, die mir dabei helfen, die Familien oder Häuser, in denen Kinder allein leben, regelmäßig zu besuchen. Sie unterstützen mich. Bis das Unausweichliche geschieht." "Was?" "Dass ein Teil von ihnen ebenfalls krank wird und Hilfe benötigt." "Sind Sie nie erschöpft? Möchten Sie nie aufgeben?" Wir fahren ungefähr einen Kilometer, bevor Priscilla antwortet. "Ich kann nicht. Aber ich weiß nicht, wie ich einen Nachfolger finden kann. Jemanden, der nicht krank ist. Jemanden, der alles weiterführen wird, wenn ich nicht mehr bin." "Haben Sie noch niemanden gefunden?" "Nein."

Wir halten an und steigen auf einen der vielen Hügel, die das wellige Landschaftsbild der Provinz Natal prägen. Mir ist, als wanderte ich auf das Ende eines der Märchen zu, die ich als Kind gelesen habe. Ein kleines Haus auf dem Gipfel eines Hügels, in dem Menschen leben. Hier oben im schneidenden Wind öffnet uns die 19-jährige Gertrud die Tür. Auf dem Rücken trägt sie ihren Sohn Busani, der knapp ein Jahr alt ist. Ihr Vater starb 1993, ihre Mutter 2001 im Alter von 42 Jahren. Gertruds Geschwister sind in alle Richtungen verstreut. Lucas, ihr ältester Bruder, ist nach Durban gegangen, um Arbeit zu suchen. Vielleicht kommt er in einigen Monaten zurück. Aber sie weiß es nicht.

Wer wird sie in ihrem Wunsch bestärken?

Gertrud kocht Reis und Kartoffeln, als wir kommen. Auch sie und ihre Geschwister sind auf Priscillas Essenspakete angewiesen. Wir treten ins Haus, um dem kalten Wind zu entkommen. Im Inneren gibt es so gut wie keine Möbel. Gertrud steht an der einen Wand. Ich stelle mir vor, dass sie ihr Leben als von einer furchtbaren Leere umgeben empfinden muss. Als ob sie sich nach einem Kampf allein auf einem Schlachtfeld befände, nur mit ihrem Sohn zusammen. Auch wenn ihr Freund, Busanis Vater, jeden Abend nach Hause kommt - was bedeutet, dass Gertrud nicht fürchten muss, von Unbekannten vergewaltigt zu werden, die herausgefunden haben, dass sie in dem Haus auf dem Hügel allein ist -, die Leere, die ihr Leben umgibt, muss absolut kompakt sein. Als ich sie nach ihren Zukunftsvorstellungen frage - Priscilla übersetzt -, sagt sie, dass sie Krankenschwester werden möchte. Aber wer wird sie in diesem Wunsch bestärken wollen? Wie kann sie in ihrer Situation auch nur im Traum an eine Ausbildung zur Krankenschwester denken? Obwohl Pflegepersonal ja so dringend gebraucht wird. So weit erstrecken sich auch Priscillas Möglichkeiten nicht. Außerdem ist Gertrud nur eine von unendlich vielen jungen Menschen, die in weitab gelegenen Häusern in dieser Provinz Natal leben und trotz allem auf ein Morgen hoffen, in dem es ihnen möglich sein wird, ein Leben zu führen, das mehr als primitives Überleben beinhaltet.

Als wir weiterfahren, frage ich Priscilla, wovon sie nachts träumt. Sie gibt mir keine Antwort. Dagegen antwortet sie auf meine Frage, was sie sich im Fernsehen anschaut, wenn sie dann und wann ausspannt. "Autorennen." - "Schnelle Autos? Michael Schumacher?" - "Es ist spannend. Ich liebe es, Autos anzuschauen, die schnell fahren. Außerdem mag ich Ringen." - "Große, dicke Männer, die in einem Ring miteinander kämpfen?" Priscilla lacht. "Ich erhole mich, wenn ich den Autos oder den Ringern zusehe." Am Nachmittag kehren wir nach Emoyeni zurück. Während Priscilla sich einer ihrer tausend Aufgaben zuwendet, gehe ich zwischen den Gebäuden der alten Missionsstation umher, die Priscilla zu ihrem Hospiz umgewandelt hat. Ich öffne die Tür eines der Häuser. Dahinter ist ein Raum mit zehn Kinderbetten. Sie sind alle leer.

5. An einem der Tage, die ich bei ihr verbringe, kommt Priscilla mit einem kleinen schwarzen Stein und legt ihn mir in die Hand. Er ist glatt und fühlt sich kühl an auf der Haut. Sie erzählt, dass sie die Steine an einem Strand am Indischen Ozean aufsammelt, vielleicht in Richards Bay, doch ganz klar wird es mir nicht. Sie gibt den Sterbenden solche Steine, sagt sie, damit sie sie in der Hand halten. Wenn der Patient tot ist, gibt sie den Stein einem der Kinder. Als Erinnerung an ein Leben, das nicht mehr ist. Im Innern des Steins: die Erinnerung an den Toten. Später werde ich Priscilla noch oft vor mir sehen, an einem endlosen Strand gebeugt nach ihren Steinen suchend. Es liegt nichts Magisches oder Mystisches in dieser Geste, nur eine große Einfachheit. Der Sterbende liegt da, die Hand um den Stein geschlossen. Der Tod ist langsam, oft physisch quälend, aber ebenso schwer ist der seelische Schmerz: Was wird aus meinen Kindern? Was kann ich noch für sie tun? Priscilla hat mir einen der Steine geschenkt. Er liegt vor mir, während ich dies schreibe. Der Stein der Erinnerung. Die Grenze zwischen Lebendigem und Totem.

6. Zum Schluss: Einem Menschen wie Priscilla zu begegnen gibt auch dem Verhärtetsten Hoffnung. Sie ist einer jener vielen Menschen, auf die es ankommt. Ich möchte von einem "Priscillasyndrom" sprechen. Es sind Menschen, die der Meinung sind, dass Großtaten mit einem Tropfen beginnen, der einen Stein bearbeitet. Doch Priscilla darf für uns andere nie zur Rechtfertigung dafür werden, nichts zu tun. Richtiger gesagt: zur Entschuldigung dafür, dass die reiche westliche Welt nicht unendlich viel mehr Mittel bereitstellt, als es derzeit der Fall ist. Dass Bill Gates und seine Frau Milliardenbeträge zur Verfügung stellen, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Doch wie reich Bill Gates auch sein mag: Sein Beitrag kann nie die Bedeutung der Tatsache aufwiegen, dass Menschen über ihre Steuern, über ihre Politiker, sogar über eine Organisation wie die EU einen Beitrag zum Kampf gegen Aids leisten. Vielleicht muss der Begriff Solidarität in unserer Zeit neu definiert und formuliert werden? Vielleicht brauchen wir eine weltumspannende Organisation, die sich ausschließlich mit Aids befasst?

Lernen, mit dem Virus zu leben

Wir müssen klar sehen: Der Aidserreger ist ein so spezielles Virus, dass wir kaum damit rechnen können, es auszurotten. Wir müssen lernen, mit Aids zu leben. Wenn wir eine bessere Zukunft für unsere Kinder wollen, muss diese Zukunft auch jene Kinder umfassen, die jetzt in Häusern leben, die Menschen wie Priscilla ihnen zur Verfügung gestellt haben. Priscilla erinnert uns an das, was möglich ist. In ihrer Nähe wird das Unmögliche, das Aussichtslose zurückgedrängt. In ihrem unsichtbaren Rennauto fährt Priscilla umher und bietet Tod und Qualen, Furcht und Hunger hartnäckig die Stirn. Sie ist nicht die Einzige. Man pflegt Menschen wie sie als "Helden des Alltags" zu bezeichnen. Ebenso gut könnte man sie "Verteidiger der Zukunft" nennen. Vor allem sagt sie: Alles ist immer noch möglich. Es ist noch nicht zu spät. Das ist Priscillas einfache Botschaft. Die uns alle angehen sollte.

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