Seit sieben Monaten versuchen Hunderttausende von Israelis, ihre Demokratie zu retten: Sie gehen demonstrieren, so auch diese Woche, so auch am Samstagabend. Aber die meisten zielen mit ihrem Protest nicht auf die militärische Besatzung der palästinensischen Gebiete – obwohl diese Besatzung die längste und undemokratischste Politik ihres Landes ist. "Wo ist da der Zusammenhang?", höre ich sie fragen. Dabei deuten sie mit dem Finger verständnislos und gereizt auf diejenigen, die sich gegen Besatzungspolitik stark machen.
Die Besatzung des Westjordanlandes, das Israel im Sechs-Tage-Krieg 1967 eroberte, sieht der israelische Mainstream als ein unglückliches, aber notwendiges Übel in einem Konflikt um Leben und Tod. Seit Jahrzehnten gelingt es den Israelis, sich von einer Illusion zu überzeugen: dass das Militärregime, das für die Kontrolle der Palästinenser im Westjordanland zuständig ist, nichts mit dem politischen System in ihrem Land zu tun hat. Man hält dieses Regime für eine Art eigenständig existierenden Fremdkörper. Lange Zeit diente diese Überzeugung auch dazu, Außenstehenden zu signalisieren: Die Besatzung ist ein vorübergehender Zustand.
Heutzutage verschwimmt diese Unterscheidung. Die "Grüne Linie“, die Waffenstillstandslinie, die einst das israelische Kernland von dem 1967 eroberten Territorium abgrenzte, hat an Bedeutung verloren. Eigentlich sollte auf dem Territorium des Westjordanlandes, des Gazastreifens und in Ostjerusalem ein palästinensischer Staat entstehen. Stattdessen sehen wir heute ein Verschwimmen zwischen den völkerrechtlich anerkannten Grenzen Israels und der scheinbaren Demokratie auf der einen Seite – und der Militärherrschaft über die Palästinenser und hunderten jüdischen Siedlungen im Westjordanland auf der anderen Seite.
Die aktuelle ultra-nationalistische Regierung will Israels permanente Kontrolle über das Westjordanland zementieren. Dabei bemüht man sich nicht einmal um den Anschein von Demokratie. Jüdische Israelis leben im Westjordanland in völkerrechtswidrig errichteten Siedlungen als vollwertige und freie Bürger Israels. Ihren palästinensischen Nachbarn gesteht man weder Rechte noch politische Repräsentation zu. Das System basiert auf der Überlegenheit der einen und Unterdrückung der anderen Gruppe.
Die Annexion wird real
Im Februar formalisierte die Regierung dieses Unrechtssystem in einem trocknen und technokratischen Abkommen. Nicht mehr das Militär sollte wie bisher für die palästinensische Zivilverwaltung im Westjordanland zuständig sein, sondern das Verteidigungsministerium. Eigens dafür schuf man einen Ministerposten.
Die israelische Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten gilt seit langer Zeit als der mächtige ausführende Arm der Besatzungspolitik. Aber ihre Existenz war zumindest formell immer eine Existenz auf Zeit, weil das Militär am Ende die Verantwortung trug. Mit dem neuen Abkommen fallen viele Aufgaben der Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten in die normale bürokratische Zuständigkeit des israelischen Staatsapparates.
Um den Ministerposten zu schaffen, musste ein israelisches Grundgesetz geändert werden. De facto bedeutet diese Änderung: Die Besatzung ist kein vorübergehendes Phänomen mehr. Sondern sie wird zu einem festen Bestandteil von Israels Grundgesetzen, die einen verfassungsähnlichen Status besitzen. Dieser Schachzug formalisiert die Annexion des Westjordanlandes, eines Territoriums, das 1967 durch Kriegshandlungen gewonnen wurde – eine Verletzung der UN-Charta und ein Schlag ins Gesicht der internationalen Gemeinschaft.
Das neue Ministeramt hat zusätzlich nun Finanzminister Bezalel Smotrich von der Partei "Religiöser Zionismus" übernommen, er ist im ganzen Land als Fanatiker und Rassist bekannt, der Palästinenser hasst. Jetzt darf er darüber entscheiden, wie Teile des Westjordanlands genutzt werden. Er kann jede Art von Entwicklung auf palästinensischer Seite verhindern und verwaltet die Haushaltsmittel für die Siedlungen. Seine Aufgabe ist es, die Diskriminierung der Palästinenser bei der Nutzung von Ressourcen wie Wasser und bei der Erteilung von Baugenehmigungen noch weiter zu verschärfen.
Das Tempo, mit dem die Annexion voranschreitet, hat sich seit Februar beschleunigt. Im März verabschiedete die Knesset ein Gesetz, das Siedlern die Rückkehr in vier Siedlungen erlaubt, die man vor fast zwei Jahrzehnten als illegal erklärt und geräumt hatte. Im Juni beschloss das Kabinett, bürokratische Hürden zur Genehmigung von Siedlungen zu lockern. Dafür verantwortlich war wieder Smotrich. Bis Mitte dieses Jahres genehmigte die Regierung mehr Wohnungen oder Häuser in den Siedlungen als in jedem Jahr seit 2012, als die Organisation "Peace Now" mit der Dokumentation begann – es sind bislang 13.000. Dazu kommen 8000 neue Einheiten im annektierten Ostjerusalem.
Das alles überrascht nicht. Im vergangenen Jahrzehnt haben rechtsnationale Parteien ihre Absichten immer deutlich geäußert und auch Premierminister Benjamin Netanjahu bekräftigte wiederholt seinen eisernen Widerstand gegen einen palästinensischen Staat.
So viel Kontrolle wie möglich
Aber die Vorstellung der Israelis von einer Militärbesatzung, die getrennt von der Regierung existiert, war immer irreführend: In Israel kontrolliert der Staat die Streitkräfte – und die wiederum kontrollieren die Palästinenser. Israels zivile Einrichtungen und die Regierung haben sich immer der Mittäterschaft schuldig gemacht.
Schon 1967 verabschiedete man ein Gesetz, das israelische Bürger in den besetzten Gebieten unter israelisches Zivilrecht stellte, während man die palästinensische Bevölkerung dem Kriegsrecht und somit den Militärgerichten unterwarf. Aber der Oberste Gerichtshof musste sich trotzdem schon sehr bald mit Fällen auseinandersetzen, bei denen es um das Leben von Palästinensern in den besetzten Gebieten ging – weil das eine unmöglich vom anderen getrennt werden kann. Auch fast alle anderen Ministerien bestimmten über den Alltag von Palästinensern mit: beim Bau von Häusern und Straßen, im Gesundheitswesen, bei Steuern und bei der Wirtschaftspolitik. Die Bürokratie, die die Besatzungspolitik aufrechterhält, gehört zum Staat und kann nicht davon isoliert werden.
Mit der Zeit wurde das Ziel immer klarer: Man wollte permanente israelische Kontrolle über so viel Territorium wie nur möglich etablieren. Israel annektierte Ostjerusalem de facto schon 1967, formalisierte den Schritt 1980 in einem Grundgesetz, es annektierte die Golanhöhen 1981, baute seinen Einfluss über das Westjordanland mit den Jahren immer weiter aus und behielt auch von außen Kontrolle über den Gazastreifen. Die Annexionspolitik der aktuellen Regierung ist keine Revolution, sondern die Zuspitzung zu einem "point of no return“.
Allerdings geht die aktuelle Regierung Schritte in noch eine andere und unheilvolle Richtung: Die jüngsten politischen Entscheidungen, die Äußerungen von Politikern, die Siedlergewalt, die außer Kontrolle geraten ist, und das Verhalten der Armee können sich so lesen lassen, als ob es die Absicht gäbe, die Palästinenser zu vertreiben. Namhafte israelische Bürger warnen vor einer zweiten Nakba: einer Katastrophe, wie im Krieg von 1948, als mehr als 700.000 Palästinenser vertrieben wurden oder geflohen sind.
Ein Minister sagte öffentlich, man "müsse den Job von 1948 beenden“. Er wolle Hawara, eine palästinensische Kleinstadt im Westjordanland, als Rache für die Angriffe auf israelische Zivilisten "von der Landkarte verschwinden lassen“. Siedler aus extremistischen Kreisen sind für diese Art von Aussagen sehr empfänglich. UN-Angaben zufolge gab es 2023 bereits mehr Angriffe durch Siedler auf Palästinenser als im gesamten Jahr 2021. Auch Palästinenser töteten Israelis; schon bis Juli 2023 wurden so viele Zivilisten getötet wie im gesamten Jahr 2022.
Als Antwort darauf versucht Israels Rechte, palästinensisches Leben unerträglich zu machen: Im sogenannten Gebiet C, das vollständig von Israel kontrolliert wird und zu dem 60 Prozent des Westjordanlandes zählen, zerstört Israel Dörfer, Schulen, Brunnen und Parks. Erst im vergangenen November und in diesem Mai riss man zwei Schulen ab, die von europäischen Steuerzahlern mit EU-Geldern finanziert wurden.
Die aktuelle Regierung legt Gesetzesvorschläge vor, die die Finanzierung von palästinensischen Schulen in Ostjerusalem beenden sollen. Angeblich, um sie daran zu hindern, durch ihre Lehrpläne "Hetze und Terror" zu verbreiten – was in diesen Schulen nicht zu erkennen ist. Das wirkliche Ziel dahinter: das Leben palästinensischer Familien in Jerusalem unmöglich zu machen, damit sie die Stadt verlassen. Jüdische Israelis täuschen sich also in ihrer Vorstellung, all das hätte mit ihrem Staat und ihrer Demokratie, die sie zu unterstützen behaupten, nichts zu tun.
Die internationale Gemeinschaft, Europa und auch Deutschland kritisieren die Besatzung zwar, dulden sie aber faktisch. Europäische Behörden müssen um Entschädigungszahlungen betteln, wenn Israel Infrastruktur zerstört, die durch europäische Gelder finanziert wurde. Die Politik der aktuellen israelischen Regierung hilft allen, endlich zu verstehen: längst ist aus Militärbesatzung Annexion geworden. Demnächst könnte aus der Annexion Vertreibung werden – und Israels Demokratie vor dem Aus stehen.
Übersetzung: Marina Klimchuk