Joe Biden twittert zwar nicht so viel wie sein Amtsvorgänger, aber dennoch regelmäßig. Ausgerechnet am Tag seines ersten Jahrestags hatte er schlechte Nachrichten für seine 32 Millionen Follower: "Ich bin zutiefst enttäuscht, dass es dem Senat nicht gelungen ist, sich für unsere Demokratie stark zu machen", schrieb er. Der US-Präsident bezog sich auf die soeben gescheiterte Abstimmung über seine Wahlrechtsreform. Wie kaum ein anderes Vorhaben Bidens steht sie beispielhaft für sein fast aussichtsloses Ringen, die USA im Jahr 2022 zu regieren.
Dabei ist seine Bilanz für das erste Jahr nicht so übel: Die Wirtschaft boomt und ist zuletzt um sechs Prozent gewachsen, sechs Millionen neue Jobs sind in den vergangenen zwölf Monaten entstanden. Auch ein Billionen Dollar schweres Infrastrukturprojekt hat er durchbekommen. Dennoch sind Bidens Zustimmungswerte im Keller. Sein Amt mag schillernd sein, aber es ist undankbar. Denn mit dem Aufschwung kehrt die Inflation zurück, Omikron tobt allerorten und auch das Debakel des Afghanistanabzugs ist noch nicht vergessen. Schwach wirkte er in diesen Tagen im August, als das mächtigste Militär der Welt vor den Taliban floh. Nicht ganz auf der Höhe wirkte er auch bei seinem Auftritt jetzt zum Amtsjubiläum.
Eine vielleicht zu große Aufgabe
Biden wollte sein zersplittertes und grimmig gewordenes Land "heilen". Wieder zusammenführen, die Gräben zuschütten, die sein Amtsvorhänger mit Wonne ausgebuddelt hatte. Eine Aufgabe, die vielleicht zu groß ist. Denn die Spaltung nimmt zu und besonders bitter ist es für ihn, dass er nicht einmal seine eigenen Reihen schließen kann. Das zeigte sich bereits am Streit über sein gigantisches Klima- und Sozialpaket namens "Build Back Better". Mit fast zwei Billionen Dollar wollte der US-Präsident dem Land ein modernes Sozialnetz und ein Klimaschutzprogramm verpassen. Gescheitert ist es an einem Demokraten und dem kaum noch zu flickenden politischen System.
Joe Manchin heißt der innerparteiliche Widerborst, der das Meisterstück seines Präsidenten quasi im Alleingang verhinderte – und er ist auch derjenige, der nun gegen die Wahlrechtsreform gestimmt hat. Manchin ist 74 Jahre alt und Senator aus dem konservativen und verarmten Bundesstaat West Virginia. Weil die Demokraten im US-Senat nur dank Vizepräsidentin Kamala Harris eine Mehrheit von einer Stimme haben, reicht ein Abweichler aus, um jedes Gesetz zu Fall zu bringen. So war es im Wesentlichen beim "Build Back Better"-Paket und nun eben bei Bidens Versuch, die Integrität der Wahlen zu sichern.
Um das ganze Ausmaß von Bidens Dilemma zu verstehen und das der Vereinigten Staaten, sind ein paar Schleifen nötig:
Als der 46. US-Präsident am 20. Januar 2021 vereidigt wurde, hallte noch der Lärm des Mobs nach, der nur wenige Tage zuvor das Parlamentsgebäude gestürmt hatte. War es ein Putschversuch oder nur eine ausgeartete Demonstration von "Patrioten"? Selbst darüber können sich die Amerikaner bis heute nicht einigen. Doch die dem Kapitolsturm vorangegangene Lüge von der "gestohlenen Präsidentschaftswahl" sickert immer tiefer ins öffentliche Bewusstsein. Mehr als 40 Prozent der Amerikaner zweifeln daran, dass Biden der rechtmäßige Präsident ist, das ist eine bespiellose Legitimationskrise für das Amt.
Der Wahl waren monatelange Diskussionen über die Vertrauenswürdigkeit der Briefwahl und vorgezogene Abstimmungen vorangegangen. Nach der Wahl gab es unzählige Nachauszählungen und Kontrollnachauszählungen, keine stießen auf nennenswerte Unregelmäßigkeiten. Das System funktioniert also, dennoch haben mittlerweile fast zwei Dutzend konservativ regierte Bundesstaaten Änderungen am Wahlrecht beschlossen. Demokraten und zahlreiche Experten werten sie als Versuch, Minderheiten wie Afroamerikanern, die mehrheitlich demokratisch wählen, das Wählen zu erschweren. Beliebtes Mittel dazu ist etwa das "gerrymandering". Vereinfacht gesagt werden dabei Wahlkreise so zugeschnitten, dass das US-Mehrheitswahlrecht den Republikanern den Sieg sozusagen garantiert. Auch die Demokraten nutzen diesen Trick, aber längst nicht so ausgiebig wie die Konservativen.
Georgia ist einer der Bundesstaaten, in denen die Republikaner noch deutlich weiter gehen. 2020 hatte Joe Biden den "Pfirsichstaat" nur hauchdünn gewonnen, 14.028 Stimmen betrug sein Vorsprung. Jüngst hatte das dortige Parlament die oberste Wahlleitung umbesetzt und sich dabei einiger Mitglieder der demokratischen Partei entledigt. Zuletzt wurden Pläne des Lincoln-Landkreises bekannt, alle Wahllokale bis auf eines zu schließen. Bürgerrechtler sind entsetzt über die offenkundigen Einschränkungen des Wahlrechts. Torben Lütjen, Politikwissenschaftler und US-Experte, hält Teile der konservativen Partei für explizit "antidemokratisch", wie er dem stern sagte.
Joe Biden wählte nicht zufällig Georgia
Nicht zufällig hatte Präsident Biden vor ein paar Tagen Georgias Hauptstadt Atlanta gewählt, um die Dringlichkeit seiner Wahlrechtsreform zu unterstreichen: "Die Gefahr für unsere Demokratie ist so groß, dass wir einen Weg finden müssen, Gesetze zum Schutz des Wahlrechts zu verabschieden, zu debattieren und abzustimmen", sagte er. "Wenn schon das blockiert wird, haben wir keine andere Möglichkeit, als die Regeln des Senats zu verändern, inklusive des 'Filibuster'." Und mit diesem Stichwort öffnet sich die nächste Schleife einer dysfunktionalen US-Politik, die es selbst einen Präsidenten mit Mehrheit in beiden Parlamentskammern fast unmöglich macht, zu regieren.
Als "Filibuster" wird in den USA eigentlich eine sogenannte Ermüdungsrede bezeichnet, um Abstimmungen mit einem Redemarathon aufzuhalten. Um das Verfahren zu beenden und mit der eigentlichen Abstimmung beginnen zu können, sind im US-Senat 60 der insgesamt 100 Stimmen nötig. Die Regelung zielte ursprünglich darauf ab, dass bei knappen Mehrheiten die dominierende Partei einen Kompromiss suchen soll. In der Realität aber ermöglicht sie der Minderheit eine Blockade – von der in den vergangenen Jahren sowohl Republikaner als auch die Demokraten ausgiebig Gebrauch gemacht haben.
Um angesichts des de-facto-Patts in der Parlamentskammer überhaupt noch zu Entscheidungen zu kommen, wollte Joe Biden das "Filibuster"-Verfahren beenden. Dazu hätten die 50 Stimmen seiner Demokraten plus die Stimme von Vizepräsidentin Kamala Harris auch ausgereicht. Doch Joe Manchin war dagegen, ebenso wie Kyrsten Sinema, demokratische Senatorin aus Arizona. Letztere sagte zwar, sie unterstütze die Wahlrechtsreform, werde aber nichts unternehmen, das die "Krankheit der Spaltung" in den USA verschlimmern werde. Manchin verteidigte sein Nein mit den Worten: "Der Filibuster spielt eine wichtige Rolle, um unsere Demokratie vor den vergänglichen Leidenschaften der Mehrheit zu schützen und die Beiträge der Senatsminderheit zu respektieren."
Glaubwürdigkeit in die Wahl zutiefst erschüttert
Die "Freedom to Vote Act" genannte Wahlrechtsreform sollte eigentlich landesweite Standards für Wahlen setzen, darunter ein Recht auf Briefwahl sowie Umwandlung des Wahltags in einen Feiertag. Daraus wird nun erst einmal nichts. Biden hatte die Änderungen auch deshalb forciert, weil am 8. November Zwischenwahlen zum US-Kongress anstehen. Dann werden alle 435 Mitglieder des Repräsentantenhauses und 34 der 100 Senatorinnen und Senatoren gewählt. Den Demokraten droht dann der Verlust beider Kammern des Kongresses. Durch das Herumgedoktere an den Landeswahlgesetzen aber drohen möglicherweise viel größere Probleme – es steht die Glaubwürdigkeit der Wahlen an sich zur Disposition.
"Mittlerweile sind wir an einem Punkt, an dem keine Seite einen Erfolg der anderen Seite für legitim hält", sagt Politologe Torben Lütjen. "Wenn Donald Trump oder welcher Republikaner 2024 auch immer antreten wird, beispielsweise in Georgia gewinnt, werden die Demokraten sagen, dass die Wahl manipuliert wurde. Auch wenn sie wissen, dass der Bundesstaat so konservativ ist, dass ihn die Republikaner auch ohne Betrug gewinnen können."
Nach einem Jahr im Amt muss Joe Biden feststellen, dass seine ehrgeizige Agenda nicht nur von den Republikanern blockiert wird, die ohnehin nur noch Fundamentalopposition betreiben, sondern auch von seinen eigenen Leuten. Die Ironie dabei: Vor einem Jahr galt noch der linke Flügel der Demokraten als potenzielle Problemfraktion. Doch die hat den Mann der Mitte bislang unterstützt, wenn auch nur zähneknirschend. Sollte dieser Burgfrieden nun auch noch bröckeln, stehen der Nummer 46 im Weißen Haus als auch dem Rest des Landes ungemütliche drei weitere Jahre bevor.
Quellen: "New York Times", Axios, CNN, DPA, AFP, Tagesschau, FiveThirtyEight, Joe Biden auf Twitter, "Handelsblatt", Wahlleitung Georgia