China hat zur Niederschlagung der "Verschwörung und Sabotage" durch die Unabhängigkeitskräfte in Tibet aufgerufen. Als vorläufiger Höhepunkt der angelaufenen Propagandakampagne wurde dieser Aufruf des kommunistischen Parteiorgans "Renmin Ribao" (Volkszeitung) am Sonntag über größere Zeitungen verbreitet. Einigen internationalen Medien wurde Verdrehung von Tatsachen vorgeworfen. Ausländische Kritiker wurden beschuldigt, die Gewaltakte der Randalierer bei den Ausschreitungen in Lhasa und das Vorgehen der chinesischen Sicherheitskräfte mit zweierlei Maß zu messen. Die Proteste begannen am 10. März in Tibet. China gibt die Zahl der Toten bei den Unruhen offiziell mit 22 an. Nach Angaben der tibetischen Exilregierung in Indien wurden 99 Menschen getötet, 80 in Lhasa und 19 in Gansu.
Auch deutsche Medien beschuldigt
Außer dem US-Nachrichtensender CNN und anderen wurden in einem Bericht der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua vom Sonntag auch deutsche Medien genannt. Der deutschen Zeitung "Berliner Morgenpost" wurde eine falsche Bildunterschrift vorgeworfen. Unter einem Bild, auf dem die Polizei einen Chinesen vor einem Angriff von Randalierern rette, stehe, dass ein "Aufständischer" von der Polizei mitgenommen werde, schrieb Xinhua.
Die "Berliner Morgenpost" hatte Fotos von der Szene in der tibetischen Hauptstadt Lhasa sowohl in ihrer Online-Ausgabe als auch in der Zeitung vom 17. März veröffentlicht. Im Internet lautete die Bildunterschrift: "Ein Aufständischer wird während der Proteste in Tibets Hauptstadt Lhasa von Sicherheitsbehörden abgeführt." In der Zeitungsausgabe hieß es: "Aufnahmen des chinesischen Fernsehens zeigen einen Jungen, der von bewaffneten Streitkräften in Kampfanzügen durch die Straßen von Lhasa gejagt und verhaftet wird." Was das Foto wirklich zeigt, war zunächst nicht aufzuklären.
Offener Brief chinesischer Intellektueller
Erstmals meldeten sich auch in China kritische Stimmen, die ihrerseits der Regierung "einseitige Propaganda" vorwarfen. Eine Gruppe chinesischer Autoren und Intellektueller bemängelte, dass in Chinas Staatsfernsehen vor allem tibetische Demonstranten in Lhasa gezeigt würden, wie sie chinesische Läden und Behörden angriffen. Die Berichterstattung heize die Feindseligkeiten zwischen den Volksgruppen zusätzlich an und verschärfe eine ohnehin gespannte Situation, hieß es in einem offenen Brief von 29 Unterzeichnern, der im Internet veröffentlich wurde. Sie riefen die Regierung zum Dialog mit dem Dalai Lama auf, forderten ein Ende der "gewalttätigen Unterdrückung" und ermahnten die Tibeter zur Gewaltlosigkeit.
"Ein Land, das die Spaltung seines Gebiets verhindern will, muss zu allererst die Teilung zwischen seinen Volksgruppen verhindern", hieß es in dem Brief. "Deshalb appellieren wir an die Führung unseres Landes, einen direkten Dialog mit dem Dalai Lama zu führen." Peking solle angebliche Beweise veröffentlichen, wonach die blutigen Unruhen in Tibet von langer Hand vom Dalai Lama und Exiltibetern vorbereitet worden seien. Diese Vorwürfe sowie die Situation in Tibet sollten von unabhängiger Seite untersucht werden. Zu den 29 unterzeichnenden Autoren, Journalisten, Juristen und Akademikern gehören auch der Vorsitzende des chinesischen Pen-Clubs, Liu Xiaobo, und der praktisch unter Hausarrest gestellte Schriftsteller Wang Lixiong. Sie forderten auch die Öffnung Tibets für die in- und ausländische Presse.
China bleibt bei Anschuldigungen gegen den Dalai Lama
Die kommunistische Führung demonstrierte aber eine harte Linie. Die größeren staatlichen Zeitungen gaben den Aufruf des Parteiorgans weiter, die Unabhängigkeitskräfte zu "zerschmettern". Der Dalai Lama und die Exiltibeter hätten die Unruhen geplant und organisiert haben - "mit der bösartigen Absicht, die Olympischen Spiele untergraben und Tibet vom Vaterland abspalten zu wollen". Ein Kommentar der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua übte scharfe Kritik an der Vorsitzenden des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, die sich am Freitag bei einem Besuch beim Dalai Lama im indischen Dharamsala gegen Chinas "Unterdrücung" in Tibet ausgesprochen hatte. "Als Verteidigerin von Brandstiftern, Plünderern und Mördern" habe Pelosi ihre eigene "moralische Autorität verloren, über Menschenrechte zu sprechen".
Nachdem die Proteste von Lhasa auf andere Gebiete des alten Tibets in den Nachbarprovinzen Gansu, Qinghai und Sichuan übergegriffen hatten, sind große Truppenkontingente entsandt worden. Nach amtlichen Angaben sind bei Unruhen in dem Gebiet Gannan in Gansu insgesamt 94 Menschen verletzt worden. Auch in den Orten Xiahe, Machu, Luchu, Jone und Hezuo habe es Ausschreitungen gegeben, berichtete Xinhua. In Gannan sowie in der Region Aba in Sichuan herrsche jetzt Ruhe. Exiltibeter hatten von Dutzenden von Toten in den Gebieten berichtet.
Klöster von Versorgung abgeschnitten
Mehrere große Klöster in Tibet sind nach Informationen der deutschen Tibet Initiative von der Wasser- und Lebensmittelversorgung abgeschnitten. "Hier droht eine humanitäre Katastrophe, da den Mönchen auch ein Verlassen der Klöster verweigert wird", erklärte der Vereinsvorsitzende Wolfgang Grader am Sonntag in einer Mitteilung. Über einen Vertrauensmann, der telefonischen Kontakt in die Region habe, habe die in Berlin ansässige Initiative erfahren, dass die großen Klöster Zentraltibets - Drepung, Ganden und Sera - von der Versorgung abgeschnitten worden seien.
Zudem werde verletzten Tibetern die medizinische Versorgung vorenthalten, sagte Grader. Krankenhäusern und Ärzten sei es nach Informationen der tibetischen Exilregierung verboten, Tibeter medizinisch zu versorgen. Vor allem im Osten Tibets hielten die Proteste an, hieß es. In Lhasa dagegen gebe es massenhafte Hausdurchsuchungen und Verhaftungen. Tausende Menschen würden in chinesische Gefängnisse auch außerhalb Tibets gebracht. Nach der Ausweisung der ausländischen Journalisten aus Tibet dringen kaum noch unabhängig überprüfbare Informationen nach außen.
Exil-Tibeter ausspioniert
Bei ihren Protesten in Deutschland werden Exil-Tibeter nach eigener Darstellung von chinesischer Seite ausspioniert. "Chinesische Spitzel aus Botschaft und Konsulaten mischen sich in Deutschland unter unsere Demonstranten. Sie versuchen uns auszuspionieren oder die Veranstaltungen zu stören", sagte der Mitbegründer des Vereins der Tibeter in Deutschland, Tsewang Norbu, der "Bild am Sonntag". Nach einer Emnid-Umfrage für das Blatt befürworten 36 Prozent der Deutschen einen Olympia-Boykott. 58 Prozent wollten hingegen, dass Deutschland an den Olympischen Spielen in China teilnimmt.