Der Bürgermeister ist abgesetzt, sein Vergehen: die Verwendung der drei Buchstaben q, w und x. Denn Abdullah Demirbas, Bürgermeister der Gemeinde Sur, der Altstadt von Diyarbakir in Südostanatolien, hatte zusammen mit seinem Gemeinderat beschlossen, Dienstleistungen für die Bürger auch in anderen Sprachen anzubieten. Er hat ein türkisch-kurdisches Bastelbuch für Kinder verteilen lassen, einen siebensprachigen Aufruf "Für ein sauberes Diyarbakir", er hat während der internationalen Woche der Menschenrechte ein Plakat mit einem kurdischen Spruch aufgehängt und einen Vortrag gehalten über Mehrsprachigkeit in der Stadtverwaltung.
Das reichte dem Oberverwaltungsgericht, um den gewählten Bürgermeister, Mitglied der Kurdenpartei DTP, vor mehr als fünf Monaten, per Eilentscheidung seines Amtes zu entheben. Wegen Verstoßes gegen Gesetz 1353, Absatz 2, das die Verwendung des türkischen Alphabets in allen offiziellen Dokumenten vorschreibt. Darüber hinaus ist er angeklagt in 22 Fällen, die alle mehr oder weniger hinauslaufen auf den einen Vorwurf: die türkische Nation aufbrechen zu wollen in ihre Bestandteile. "Rechnet man alle Anklagepunkte zusammen, macht das 60 Jahre Haft", sagt Demirbas. "Aber die türkische Regierung muss endlich anerkennen, dass dieses Land ein Vielvölkerstaat ist, mit verschiedenen Sprachen und Kulturen."
Nur ein Viertel spricht türkisch
In Diyarbakir leben vor allem Kurden, nur ein Viertel der Einwohner spricht überwiegend türkisch, fast drei Viertel aber sprechen kurdisch, vier Prozent armenisch, aramäisch und arabisch. Trotzdem ist Diyarbakir eine Stadt, in der alle Schüler morgens vor dem Unterricht aufsagen müssen: Ich bin stolz, ein Türke zu sein. In der die Amtssprache Türkisch ist in den Schulen, den Behörden, auf den Straßenschildern; in der die Buchstaben q, x und w nicht existieren, weil sie nicht Teil des türkischen Alphabets sind, wohl aber des kurdischen.
Diyarbakir, das ist das Epizentrum des Kurdenkonflikts, zwei Flugstunden von Istanbul entfernt und keine 200 Kilometer vom Irak und von Syrien. Biblisches Land, gelegen zwischen Euphrat und Tigris; doch heute gehen von hier die Erschütterungen aus, die über die Zukunft der Türkei entscheiden können. Die Armee ist hier wieder präsent und Gerüchte von willkürlichen Durchsuchungen und Verhaftungen machen in Diyarbakir die Runde. Während im Westen der Türkei die Wirtschaft boomt und weiter über den EU-Beitritt des Landes verhandelt wird, gleitet der Südosten langsam wieder ab in den längst überwunden geglaubten Kreislauf aus Terrorismus und Unterdrückung, und was davon nun Ursache und was Wirkung ist, ist schwer zu sagen.
So wundert man sich nicht, dass die Kinder hier auf Kurdisch "Glaube" und "Regen" heißen, "Gefängnis" und "Unbekannt". Wenn man an den Kindernamen den Zustand einer Gesellschaft erkennen kann, dann sieht es derzeit schlecht aus für die Kurden von Diyarbakir. Mehr als eine Million Menschen flohen in den vergangenen fünfzehn Jahren vor den Kämpfen zwischen türkischer Armee und der kurdischen PKK aus ihren Dörfern oder wurden von dort vertrieben, ein Großteil von ihnen lebt noch immer in Diyarbakir, dessen Bevölkerung sich innerhalb von zwei Jahrzehnten auf eine Million verdreifacht hat; die Arbeitslosigkeit liegt zwischen 60 und 80 Prozent, die Armut ist so groß, wie man es nur aus Entwicklungsländern kennt. Und häufig sind es die Kinder, die arbeiten: Schuhe putzen, Müll sammeln, Brot verkaufen.
"Kurdische Kinder haben kein Recht auf eine Kindheit", sagt die 27-jährige Servet. Sie trägt einen roten Wollpulli, Jeans, offenes, gelocktes Haar und schlürft Cappuccino in einem modernen Café. Sie wirkt wie eine ganz normale Jugendliche, doch der erste Eindruck täuscht: Mit 15 schloss Servet sich der PKK an und ging in die Berge, wo sie schießen lernte und den Kommandanten ihrer Einheit bewachte. "Ich habe so viele Ermordete gesehen", sagt sie über ihren Entschluss. "Es ist einfach außerhalb deiner Kontrolle. Wenn du hier aufwächst, hast du das Gefühl, etwas für dein Volk tun zu müssen." Mit 16 wurde sie gefasst und kam für über sechs Jahre ins Gefängnis.
Weil man ihr nicht nachweisen konnte, dass sie an Terroroperationen beteiligt war, wurde sie nur wegen Mitgliedschaft in der PKK verurteilt. Bei den Befragungen wurde sie geschlagen und beschimpft, später im Gefängnis sei das Essen miserabel gewesen, immer zu wenig und manchmal voller Ungeziefer, erzählt sie. So ist sie zusammen mit den anderen Frauen in den Hungerstreik getreten, 49 Tage, das war die längste Zeit ohne Nahrung. Darunter leidet sie noch immer, ihr Magen spielt häufig verrückt, ihre Haut ist schlecht, tiefe Falten haben sich auf der Stirn eingegraben. Vor vier Jahren wurde sie entlassen, seitdem arbeitet sie für eine kurdische NGO und schreibt für ein Onlineportal über Politik.
Die Lage derzeit sieht die 27-Jährige pessimistisch, nichts habe sich verbessert. Und so rekrutiere seit einem Jahr die PKK erstmals seit Ende der 90er Jahre wieder aktiv Mitglieder, erzählt Servet, und zwar ganz modern: über Zeitungen, Fernsehsender, Chatrooms und Videoportale wie YouTube. Damit findet die Terrororganisation vor allem bei jenen Jugendlichen Zuspruch, die ohnehin nicht viel zu verlieren haben, weil sie arm, arbeitslos und ohne Ausbildung sind. Für sie bedeutet das vermeintlich abenteuerliche Leben als PKK-Kämpfer in den Bergen vor allem eine Flucht aus dem tristen Alltag. Die Jugendlichen von Diyarbakir sind die verlorene Generation, wer heute Mitte 20 ist, hat nie etwas anderes erlebt als Krieg, Vertreibung, Unterdrückung; Tausende waren im Gefängnis, viele sind es noch immer, sie sitzen lebenslange Haftstrafen ab. Und es sieht nicht so aus, als würde sich bald etwas ändern.
"Wir verlieren gerade die positiven Entwicklungen"
"1999 dachten wir, jetzt wäre das Schlimmste vorbei", sagt Nishtiman Hewi. "Es gab eine Reihe positiver Entwicklungen, aber die verlieren wir gerade, es ist, als wiederholten sich die 90er Jahre." Nishtiman Hewi ist 28, er arbeitet als Laborant in einem Krankenhaus, hat ein festes Einkommen, eine Freundin, manchmal geht er abends aus, dann sitzt er zwischen anderen Jugendlichen, trinkt Bier und lauscht verträumt den Liebesliedern, die eine Band auf der Bühne spielt. Doch all das könnte bald vorbei sein, denn Nishtiman Hewi soll für sechs Jahre ins Gefängnis. Der Vorwurf ist so bizarr wie ungeheuerlich: Sein Fingerabdruck soll sich auf einer Tüte und einer Zeitung befinden, in der ein Bild des inhaftierten PKK-Führers Öcalan abgedruckt ist. Für das Gericht ist das ein Indiz dafür, dass er die PKK unterstützt.
Nishtiman Hewi hat Revision eingelegt, doch wenn die Richter das Urteil bestätigen, dann muss er ins Gefängnis. Da war er schon mal für drei Monate, nach Ausschreitungen im vergangenen Jahr, nach denen in Diyarbakir mehrere hundert Demonstranten mit dem Vorwurf der PKK-Anhängerschaft verhaftet worden waren. Auch Nishtiman Hewi, den die Polizisten beschuldigten, er sei auf Filmaufnahmen als Aufrührer zu identifizieren. Der jedoch sagt, er habe sich ferngehalten, und tatsächlich konnten die Polizisten ihre Anschuldigungen nicht beweisen. Nach drei Monaten in Untersuchungshaft musste das Gericht ihn schließlich freisprechen. Das aktuelle Urteil sieht Nishtiman Hewi als erneuten Versuch, ihn hinter Gitter zu bringen. Diesmal vermutlich erfolgreich.
Dabei ist er einer von denen, die sich gegen den bewaffneten Kampf entschieden haben, am Ende sogar gegen die Politik; obwohl er seit seinem siebzehnten Lebensjahr als Jugendaktivist der Kurdenpartei aktiv war, ebenso wie sein Vater, der Lehrer war, und wegen seines Engagements mehrere Jahre im Gefängnis saß. "Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas für mein Volk tun musste, dass ich es meinem Vater schuldig war", sagt er. Sein Name "Nishtiman" bedeutet auf Kurdisch "Patriot". Doch nach ein paar Jahren stieg er aus, er hasst seitdem die Politik und die Politiker, lieber konzentriert er sich darauf, in seiner Freizeit Straßenkindern und Bedürftigen zu helfen.
Sein neues Leben gerät ins Wanken
Durch das Gerichtsurteil gerät sein neues Leben ins Schwanken. "Ich habe drei Alternativen", sagt er. "Entweder ich beantrage Asyl in Europa, obwohl ich eigentlich meine Familie und meine Freunde nicht verlassen will. Oder ich gehe ins Gefängnis, wovor ich Angst habe, schließlich habe ich gesehen, was dort passiert." Er holt tief Luft: "Oder ich werde Freiheitskämpfer und gehe in die Berge."