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stern-Reporter in London Eingesperrt in einer Bar, eine Flasche Rotwein - und Briten, die den Terror erklären

Terror in London: Keine Stadt ist wirklich für einen Anschlag gerüstet
Terror in London: Keine Stadt ist wirklich für einen Anschlag gerüstet
© Justin Tallis/AFP
Gesperrte Straßen, gesperrte Bars. "Lockdown" nennen die Briten das. Terror und nichts geht mehr. stern-Korrespondent Michael Streck hat sich in der Stadt umgesehen. Und jede Menge Routine im Umgang mit Terror gefunden.

Spät am Abend lag die Westminster Bridge über dem Fluss wie festgefroren in der Zeit. Busse standen dort noch drauf und Autos, dunkel und als Silhouette, gelegentlich und flüchtig beleuchtet vom Blaulicht vereinzelter Polizeiwagen.

Vor dem neuen Domizil von Scotland Yard am Themseufer, nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernt, standen Kamerateams und warteten auf Neuigkeiten. Gerüchte kursierten wie immer, eines über die vermeintliche Identität des Täters. Eine Falschmeldung. Mittlerweile hat Theresa May klargestellt: Der Mann, Khalid Masood, war Brite - und den Geheimdiensten bekannt. Alle paar Stunden trat ein Sprecher aus dem prächtigen Gebäude, "New Scotland Yard" leuchtet vom Dachfirst, es könnte ein Hotel sein. Der Sprecher korrigierte dann meistens die Opferzahlen, die stiegen in den Stunden danach. Am Donnerstag sollte eigentlich die Queen kommen zur offiziellen Eröffnung der neuen Zentrale. Sollte. Eigentlich.

Eine eigentümliche Ruhe lag über der Stadt, normalerweise laut und zuweilen nervig. Nun aber die U-Bahnen seltsam leer und seltsam still. Der Trafalgar Square mehr oder weniger verlassen, eine Schulkasse aus Thüringen gestrandet dort mit verängstigten und frierenden Schülern wartend auf den Bus, der sie in das sichere Bournemouth im Süden bringen sollte und der nun kreiste im Zentrum. Vor der National Gallery prügelten sich zwei Obdachlose, aber die Polizei war ja nicht weit. Die Polizei war überall.

Ruhig bleiben und weitermachen

In einer Bar nicht weit vom Ufer, nicht weit vom Tatort saß Craig aus Cornwall, 52 Jahre alt, ein Lobbyist, der sich am Nachmittag mit seinem lokalen Abgeordneten im Parlament auf ein Bier treffen wollte. Der Parlamentarier rief ihn dann an und erklärte ihm fast entschuldigend, dass es nichts werde mit dem Treffen. Er könne mit seinen Kollegen das Gebäude nicht verlassen, "lockdown" nannte sich das. Craig trank eine Flasche Rotwein und räsonierte über die spezielle britische Natur, diesen Widerstandsgeist, gestählt durch viele Jahre Erfahrung mit Terrorismus. Er hatte früher in London gewohnt und solche "lockdowns" oft erlebt, als die IRA die Stadt lähmte mit Bomben und die Menschen hinter Sandsäcken in Restaurants dinierten.

Das war mal die Normalität in dieser Stadt, vor gar nicht langer Zeit, im Übrigen. Die Premierministerin sprach gleichzeitig zum Volk und sie drückte mit etwas geschliffener Wortwahl Ähnliches aus wie Craig aus Cornwall. Theresa May, sichtlich erschüttert, sagte, Großbritannien werde sich nicht spalten lassen. Jeder Versuch, die Werte Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Gesetze zu beschädigen durch Gewalt und Terrorismus seien "zum Scheitern verurteilt". Dann sprach sie trotzig, dass man sich am Morgen ganz normal im Parlament treffen würde.

Natürlich nicht, um mit "business as usual" fortzufahren. Aber der Welt und auch den Terroristen zu signalisieren, dass man sich nicht einschüchtern lasse. Von nichts und niemandem. Diese störrische Attitüde ist in der Tat britische Tradition und tief verankert in der DNA einer Nation, die "Keep calm and carry on" seit den Zeiten des Zweiten Weltkrieges zum Mantra erhoben hat. Am Morgen danach, als sich die Parlamentarier aufmachten ins House of Commons, als die Londoner ihren Normalbetrieb aufnahmen und die U-Bahnen fluteten, trat der stellvertretende Polizeichef der "Metropolitan Police", Mark Rowley, vor die Kameras und erklärte, dass man in der Nacht an sechs Orten acht Verdächtige festgenommen habe. Offenkundig auch in einem Haus in Birminghams Hagley Road, vor dem die Reporter standen und ratlose und zunehmend verärgerte Anwohner befragten. Der Wagen, auch das war zügig klar, stammte von einem Enterprise-Autoverleih aus Spring Hill in der Nähe. Masood hatte sich dort als Lehrer ausgegeben. Das alles wussten die Ermittler bereits Stunden nach der Tat.

Eine Attacke galt seit Jahren als höchst wahrscheinlich

Polizei und Geheimdienste arbeiteten gewohnt schnell und professionell. Man wusste, dass sie 13 Terrorangriffe in den vergangenen Jahren vereitelt hatten. Man wusste auch, dass es keine Frage des Ob sein würde. Sondern lediglich eine Frage des Wann. Das sagten sämtliche Experten übereinstimmend. Die Hauptstadt lebte seit Jahren unter dem Terrorlabel "severe", hoch, und übersetzt bedeutete das: Attacke höchst wahrscheinlich. Das lag ständig und unausgesprochen über dem Alltag der Metropole. Und es belastete ihn nicht. Noch vor wenigen Tagen hielten sie auf der Themse eine große Übung ab mit Zivilisten, Polizisten und einer Anti-Terroreinheit, die ein Boot enterte und mutmaßliche Terroristen überwältigte. Die Einsatzkräfte, hieß es hernach sehr zufrieden, seien gewappnet.

Aber für einen echten Angriff ist keine Stadt der Welt wirklich je gewappnet. Khalid Masood benutzte einen Wagen, er mähte wie die Attentäter in Nizza und Berlin zuvor, arglose Passanten vom Bürgersteig auf der Westminster-Brücke. Er sprang aus seinem grauen Hyundai und lief mit einem Messer auf den am schwächsten bewachten Eingang des Parlaments zu, die alte Kutschen-Einfahrt. Erstach dort den Polizisten Keith Palmer und wurde dann selbst von Kugeln niedergestreckt. Masood, in Kent geboren und zuletzt in den West Midlands lebend, war kein unbeschriebenes Blatt und mehrfach vorbestraft, etwa wegen Körperverletzung, aber das lag Jahre zurück. Irgendwann verschwand er vom Radar des Inlandsgeheimdienstes MI5 und galt fortan als "periphere Figur". Am frühen Mittwoch nachmittag änderte sich diese Einschätzung dramatisch. Masood, 52, tötete drei Menschen und hinterließ Dutzende von Verletzten. Darunter Schüler aus Frankreich, Studenten, Touristen aus Südkorea, Rumänien, Griechenland, Italien, Irland – und Deutschland. Der Islamische Staat nannte ihn einen Soldaten. 

Es hätte, bei allem, viel schlimmer kommen können. Westminster ist das Herz der Stadt, nirgendwo in London halten sich tagsüber mehr Menschen auf als am Fuße von Big Ben mit dem London Eye auf der anderen Seite des Flusses. Malerisch, historisch und vor allem: symbolisch. Das Ziel ergo mit Bedacht gewählt vom Täter. Es war dies auch und vor allem ein Anschlag auf die Demokratie. Nur arbeitete diese Demokratie tags drauf wieder. London fuhr zur Arbeit, und die Parlamentarier kehrten an den Tatort zurück, ins House of Commons, wo sich May sich abermals an Kollegen und Volk wandte, "wir fürchten uns nicht". Der übliche politische Zwist ruhte an diesem Tag, auch der bevorstehende Brexit ruhte an diesem Tag. Die Nation trauerte und machte dann weiter.

Und während London genau wie nach dem letzten Terrorangriff am 7. Juli 2005 allmählich zur Tagesordnung überging, wurde in Nordirland Martin McGuinness zu Grabe getragen. Ein Mann, der zu den Anführern der IRA zählte, ein Mann, der für Mord und politisch motivierten Terror stand. Ehe er einsehen musste, dass dies der falsche Weg war und er abschwor, vom Saulus zum Paulus konvertierte und den Friedensprozess in Nordirland durchaus prägte. Einst fürchtete London diesen Martin McGuinness und seine IRA. Aber wenn die Terroristen von damals eines erreicht haben, dann exakt das Gegenteil von dem, was sie anstrebten. Sie haben die Stadt und ihre Menschen nur stärker gemacht und unbeugsamer. Irgendwann werden auch ihre IS-Nachahmer erkennen müssen, dass sie nicht gewinnen können. Nicht in Paris. Nicht in Brüssel. Nicht in Nizza. Nicht in Berlin. Und gewiss nicht in London.

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