Protokoll Die letzten Tage an der Macht

Anhand von Zeugenaussagen rekonstruierten stern-Reporter, wie sich Saddam Hussein nach Beginn des Irak-Krieges versteckte. Eine Chronik des Verfalls seiner Herrschaft und der Angst seiner Anhänger, die ihm treu blieben bis zuletzt.

Wie schade wäre es doch um diese Türen", sagt Saddam. Er lässt seinen Blick auf den beiden Flügeltüren aus Indien ruhen, wo sich schwersilberne Ornamente um Intarsien aus Elfenbein und Halbedelsteinen ranken.

13. März

Der irakische Präsident hat seine engsten Angehörigen zum letzten Familientreffen vor dem Krieg zusammengerufen. Sie sitzen im Palast seiner ersten Frau Sajida, der wunderschön am Fluss im Bagdader Stadtteil Jadriya liegt. Tee und Teilchen werden gereicht, aber Saddam Hussein isst nicht. Alle wollen sofort über den Krieg reden - nur er nicht. Er sorgt sich um die Türen. Sie sollen abmontiert und sicher verstaut werden.

Das hat etwas Beunruhigendes, Alarmierendes für die Anwesenden. Vermutlich ist es dieser 13. März, der das Ende einer Ära markiert. Denn nie zuvor, weder im jahrelangen Krieg gegen den Iran noch im Golfkrieg 1991, hatte sich Saddam Sorgen um seine Möbel gemacht.

Nach anderthalb Stunden wird beschlossen, dass Sajida mit Saddam-Sohn Uday, ihre Töchter zusammen mit dessen Bruder Qusay untertauchen sollen. Bevor Saddam aufbricht, verabschiedet er sich von Sajida mit Wangenkuss. In einem weißen Oldsmobile, einem Allerweltsauto, fährt der Diktator davon. Auch für den Rest des Krieges wird er in unauffälligen Toyotas, Nissans, Peugeots unterwegs sein.

18. März

Die russische Botschaft hat als letzte ausländische Vertretung noch geöffnet. Ein Kurier übermittelt Saddams Leibwache eine Nachricht: das Angriffsdatum.

20. März

Der Angriff auf Bagdad beginnt. US-Präsident Bush hat sich entschieden, den Befehl früher zu geben als ursprünglich geplant. Mit einem Enthauptungsschlag hoffen seine Strategen, Saddam in einem Unterschlupf zu treffen. Tatsächlich war die bombardierte Farm in Dora, einem Viertel im Süden Bagdads, eines der Ausweichquartiere von Sajida. Einer ihrer Leibwächter hatte die Adresse an den kurdischen Geheimdienst verraten, doch er war bei seinen Kontaktreisen observiert worden. Raghad, eine der beiden älteren Töchter Saddams, die sich mit ihren vier Kindern oft in der Farm aufhielt, war gewarnt und entkam unverletzt.

Saddam hatte sich längst in andere Verstecke abgesetzt. Ein Angehöriger von "Chat al-Awal", des inneren Rings seiner Leibgarde, hat in den letzten Wochen mehr als 300 Häuser teils angemietet, teils einfach in Besitz genommen. Noch in der ersten Bombennacht lässt sich der Diktator von seinem Leibchauffeur Akram Saleh durch Bagdad kutschieren.

27. März

Am Abend öffnen Wachen die hohen Eisentore einer opulenten Villa mit roten Dachziegeln und einem meterhohen Steinornament in Form eines Kranichs im Stadtviertel Hay al-Jamiya. Wie immer hat Saddam erst in letzter Minute entschieden, die Nacht hier zu verbringen. Das pompöse Quartier wählt er aus einem einfachen Grund: Acht Millionen Dollar hat er im Haus versteckt.

30. März

Saddam-Sohn Qusay beordert Kamal Mustafa nach Bagdad. Der Befehlshaber der Republikanischen Garden im Norden des Landes hat einen kilometertiefen Rückzug seiner Truppen angeordnet - gegen Einwände des Oberkommandierenden. Da Kamals Bruder Jamal mit Saddams jüngster Tochter Hala verheiratet ist, hatte er sich durchgesetzt. Denn im Universum Saddam Husseins zählt Verwandtschaft mehr als alles andere. Trotzdem schwant Kamal nun Schlimmes.

1. April

Kamal Mustafa kommt im Bagdader Stadtteil al-Kindi an, ein Kommando der Leibwache bringt ihn nach Mansur. Saddam Hussein telefoniert nicht. Niemand in seiner Entourage benutzt ein Telefon, wenn er in der Nähe ist, alle Kommunikation funktioniert mit Boten, was immer wieder zu Konfusion führt.

Es ist eine kühle Nacht. Alle sind sie da: Uday, Qusay, Verteidigungsminister Sultan Hashim, Vizepremier Tariq Aziz und Vizepräsident Taha Yasin Ramadan. Uday geht gleich mit Fäusten auf Kamal los, beschimpft ihn ob der Feigheit des Rückzugs. Ramadan geht dazwischen.

Schließlich kommt Saddam, an seiner Seite Abed Hamid, sein oberster Leibwächter und Schatten. Wachen halten Decken hoch, damit niemand sieht, wie der Diktator aus dem Auto steigt. Als er eintritt, fuchtelt Qusay mit einer Panzerfaust herum, um zu zeigen, wie kampfbereit er ist. Mit düsterer Miene hört Saddam sich an, was seine Untergebenen zu sagen haben, und raucht schweigend eine Cohiba. Qusay soll die Truppen des Innenministeriums alarmieren: Kämpfer, die angeblich zum Märtyrertod bereit sind, doch ihre bisherigen militärischen Einsätze beschränkten sich auf das Paradieren in weißen Fantasieuniformen.

2. April

Das nächste Treffen, wieder in Mansur, wieder nachts. Im Garten raucht der zweitoberste Feldherr Qusay, Herr über die Sicherheitsdienste, Chef aller Truppen, die Bagdad verteidigen sollen, eine Zigarette nach der anderen. Jahrelang galt Qusay - ruhig, besonnen, kein Psychot wie sein erstgeborener Bruder Uday - als Thronfolger. Aber nun ist er vollkommen überfordert, gibt unsinnige Befehle, weiß nicht ein noch aus. Bisher hat er in diesem Krieg alles vermasselt. Es war seine Idee, die Adnan-Division der Republikanischen Garden von Tikrit nach Bagdad und die Hammurabi-Division in die umkämpfte Stadt Qut südöstlich der Hauptstadt zu verlegen. Dabei hatte er nicht bedacht, dass gegenüber der alles sehenden, übermächtigen US-Luftwaffe nichts so verwundbar ist wie ein Armeekonvoi auf der Autobahn. All die mit eingeschmuggelten russischen Ersatzteilen mühsam instand gehaltenen Panzer werden abgeschossen.

Von beiden Divisionen ist nichts übrig geblieben. Als Saddam, wie immer als Letzter, am geheimen Haus eintrifft, hat Qusay noch eine Hiobsbotschaft für ihn. Auf die Frage, wo denn die Truppen des Innenministeriums bleiben, stammelt er nur, er wisse auch nicht, was aus denen geworden sei. Keiner habe sich gemeldet - und ans Telefon geht auch niemand mehr, da die meisten Zentralen mittlerweile bombardiert worden sind. Die Atmosphäre ist schlechter denn je, Saddam ausgesprochen nervös, zumal es einen Schuldigen gibt, den er aber nur bedingt bestrafen kann.

Jamal Mustafa, Saddams Schwiegersohn und verantwortlich für den Kontakt zu den Stammesfürsten, soll nach Ramadi aufbrechen, rund 100 Kilometer westlich von Bagdad, um deren Kämpfer zum Einsatz zu bewegen.

3. April

Jamal Mustafa kommt nicht weit. Alle Routen nach Ramadi sind bereits von den vorrückenden Amerikanern blockiert. In der Nacht trifft sich der Führungszirkel zur erneuten Katastrophensitzung. Das unauffällige Haus liegt an einer Ecke, schnell zu erreichen von der Hauptverkehrsader Mansurs und ausgesprochen unverdächtig: Bis vor wenigen Wochen hat hier Jürgen Ruther gewohnt, Repräsentant der deutschen Firma Liebherr in Bagdad.

Saddam spricht von Verschwörung, sein Blick wandert über die Anwesenden. Draußen geht sein Reich unter, US-Panzer stehen schon dicht vor Bagdad, der Geheimdienstchef ist verschwunden, die einst gefürchteten Republikanischen Garden lösen sich in dieser Nacht vollends auf. Wortlos nimmt Saddam einen kleinen Zettel und schreibt darauf die Ernennung von Khalid al-Najm, einem Offizier seiner Leibgarde, zum neuen Chef des irakischen Geheimdienstes. Und geht. Kamal Mustafa hat Angst: Die Lage erfordert einen Schuldigen, und er war es, der den Rückzug im Norden angeordnet hatte, sein Bruder war es, der nun ohne Stammestruppen zurückkehrte. Tariq Aziz bietet ihm eine Zigarre an: "Beruhige dich."

4. April

Kamal und Jamal Mustafa treffen sich mit Khalid al-Najm, der seine improvisierte Ernennungsurkunde verbrennt: "Saddam ist verrückt geworden. Es ist doch alles vorbei!" Die drei beschließen zu fliehen und setzen sich tags darauf via Mosul nach Syrien ab.

5. April

Hala, Saddams jüngste Tochter, ist verzweifelt. Ihr Unterschlupf im Stadtteil Yarmuk ist bombardiert worden, und sie weiß nicht, wohin. Ihr Palast steht zwar noch, aber erstens wäre es zu gefährlich zurückzukehren, zweitens hat es der Vater verboten. Sie fährt mit ihren Leibwächtern durch Bagdad, sucht in den Geheimquartieren nach ihrem Vater. Vor dem Haus des Chefs des Präsidentenbüros begegnet sie Mizer Hamid, dem Bruder des Chefs der Leibgarde. "Wo ist mein Vater?", will sie wissen. "Du kommst zu spät. Vor einer Viertelstunde war er noch hier in der Gegend. Aber ich kann ihm eine Nachricht übermitteln." In drastischen Worten wird der Bote die Lage schildern - dass die Frauen der Familie buchstäblich auf der Straße stehen. Woraufhin Saddams Frau, alle Töchter sowie die Frau Qusays in eine Villa in Emirat, dem edelsten Viertel der Stadt, gebracht werden. Dort verbringen sie die nächsten zwei Tage, dann bringt sie ein Leibwächter nach Tikrit, wo sie das Ende des Krieges erleben werden.

7. April

Um 15.10 Uhr bleibt bei Fadl Abu Ayad im Stadtteil Mansur die Wanduhr stehen. Der 78-Jährige sitzt auf seinem Sofa, als ein gigantischer Schlag alle Scheiben seines Wohnzimmers in den Raum sprengt. Der Balkon kracht auf die Terrasse. Es erweist sich als lebensrettend, dass der diplomierte Bauingenieur sein Haus etwas massiver gebaut hat. Es hält Stand, obwohl die Grundstücksmauer kaum zehn Meter vom Einschlagskrater entfernt ist. Staub bedeckt und übersät mit Schnittwunden vom Fensterglas wankt er auf die Straße, sieht einen blutbefleckten Kellner aus dem Restaurant "Sa'a" kommen. Zwei Häuser sind verschwunden, 18 Menschen getötet. Der Angriff galt Saddam, den amerikanische Geheimdienste in dem Restaurant vermutet hatten. Wochenlang werden US-Experten nach der vermeintlichen Leiche suchen. Von Saddam keine Spur. Ironie des Schicksals: Auf der anderen Seite des Kraters blieb ein Haus stehen, das tatsächlich als Geheimquartier auserkoren war. Der Besitzer hat es Monate vor dem Krieg an den irakischen Geheimdienst vermietet. Tage vor Kriegsausbruch hatten Nachbarn bemerkt, dass edle Möbel, ein blauer Vorhang und Kisten ins Haus getragen wurden. Der Enkel Fadls beobachtet, wie Qusay in Begleitung eines Leibwächters und einer Frau das Haus verlässt - Minuten nur vor der Explosion. Und am nächsten Morgen sieht er zwei Männer, die eilig das Haus räumen.

8. April

Morgens trifft sich der Führungszirkel mit Saddam, um den Guerrillakampf vorzubereiten. Posten für die Zeit nach dem Krieg werden vergeben, Geld wird verteilt: drei Millionen US-Dollar für Sultan Hashim und Mohammed Mehdi Saleh, den Handelsminister, sechs Millionen für Abdaltawab Mullah al-Huwaysh, den Rüstungsindustrieminister, usw. In mehreren Autos brechen Saddam, seine Söhne und Oberleibwächter Abed Hamid nach Adhamiya auf, ein Innenstadtviertel, das sicherer scheint. Dort liegt die heiligste Moschee der Sunniten in Bagdad sowie das "Na'aman-Cafe", mit dem Saddam die sentimentale Erinnerung an die Untergrundtreffen der Baath-Partei in den frühen sechziger Jahren verbindet. Die Männer haben Kisten dabei. Unter den Wachen geht das Gerücht um, Saddam habe darin Chemiewaffen versteckt. Tatsächlich sind sie voller Dollarbündel.

9. April

Saddam und Qusay begeben sich am Morgen zur Abu-Hanifa-Moschee, um zu beten. Auf wackeligen Videoaufnahmen, die Abu Dhabi TV eine Woche später ausstrahlen wird, ist ein winkender Saddam auf dem Platz vor der Moschee zu sehen, umringt von Jubelnden. "Ich kämpfe Seite an Seite mit euch, in denselben Gräben!", ruft er. Was nicht zu sehen ist: Es sind allein die Leibwächter, die jubeln, dahinter warten die Fluchtautos. Auffällig ist eine große Kette aus eckigen Bernsteinen, die Saddam über der Militärkluft trägt: eine Sibha, die Böses abhalten und die Geister gewogen stimmen soll. Die meisten Leibwächter werden entlassen, jeder bekommt ein paar tausend US-Dollar zum Abschied. Schon früher hatte Saddam die Order ausgegeben: Wenn ich verschwinde, geht jeder zu seiner Familie und wartet auf weitere Anweisungen.

Während seines letzten öffentlichen Auftritts flüstert Sermed, einer der engsten Leibwächter, der ein Medizinstudium absolviert hat und immer das Notfallköfferchen für seinen Herrn trägt, Saddam etwas ins Ohr: Die große Statue auf dem Firdos-Platz sei gestürzt worden. Während der Kampflärm schon zu hören ist, verschwinden Saddam, Abed Hamid und seine Söhne wieder in ihrem Versteck in Adhamiya, kochen Kartoffeln und Eier und verbringen dort die Nacht. Als einer der Leibwächter hereinstürmt mit der Nachricht, die nahe gelegene Zentrale des Militärgeheimdienstes sei gefallen, sagt Abed Hamid resigniert: "Wenn die sich nicht selbst schützen können, sollen wir das etwa können?"

10. April

Saddam bleibt in Adhamiya. Die Amerikaner sind längst in Bagdad. Als er sich einige Tage später von Abed Hamid trennt, seinem Schatten seit Jahrzehnten, verliert sich die Spur des Präsidenten. Acht Monate lang.

13. Dezember

In einem Erdloch finden US-Truppen den Ex-Diktator: einen zauselbärtigen Mann mit wirren Haaren und starren Augen.

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Christoph Reuter