Sie schlagen sich an die Brust und geißeln sich bis sie bluten. Zehntausende schiitischer Iraker ziehen durch die heilige Stadt Kerbela und feiern das erste Mal nach Jahrzehnten der Unterdrückung frei und ungehindert eines der wichtigsten Feste ihres religiösen Jahres. Die Wallfahrt wird zugleich zur politischen Demonstration.
"Unter Saddam Hussein wurden wir dafür hingerichtet oder ins Gefängnis geworfen", sagt Allaa el Sarraf. "Dass Schiiten ihre Religion in den Straßen von Kerbela ausüben und ohne Hindernisse und frei ihre Verehrung für Imam Hussein bezeugen, ist das erste Mal seit 1972." Mit dem Einmarsch der US-geführten Truppen hat der irakische Präsident Saddam Hussein alle Macht verloren und Imam Hussein, ein Enkel des Propheten Mohammed, wird von den Schiiten auf eine Weise gefeiert, wie es das strikt unreligiös regierte Land kaum mehr kennt.
"Ja zum Islam, Nein zu Amerika"
Die Pilger sind von weither in die südlich von Bagdad gelegene Stadt gekommen, in großen und kleinen Gruppen, zu Fuß oder auf alten Lastwagen. Sie tragen bodenlange weiße Kleider, und Frauen sitzen, in Schwarz gehüllt, am Straßenrand und schlagen sich anklagend auf die Brust. Wie es ihre Religion vorschreibt, trauern die Gläubigen jedes Jahr zum Sterbetag Imam Husseins und sammeln sich zu Ehren des Märtyrers rund um die gold geschmückte Moschee, deren Kuppel die Stadt am Rande der Wüste prächtig überragt.
In die religiöse Feier mischen sich aber auch politische Töne: "Ja, Ja zum Islam", rufen die Menschen. "Nein zu Amerika, Nein zu Israel, nein zum Kolonialismus und Nein zur Besetzung." Auf einem der Spruchbändern an den Gebäuden heißt es: "Die Revolution des Imam Hussein war ein Aufschrei gegen die Unterdrücker". Die Geschichte der Schiiten erhält durch die jüngsten Ereignisse eine neue Bedeutung. Mit der Revolution unter Hussein haben sich die Schiiten im siebten Jahrhundert endgültig von der damaligen und heutigen Mehrheit der Moslems abgegrenzt. Aus dieser Zeit bringen sie die Erfahrung mit, dass es zu ihrem Glauben gehört, Unterdrückern die Stirn zu bieten.
Die Botschaft ihres Märtyrers bleibt aktuell, sagen sie, auch jetzt, da ihr Unterdrücker Saddam Hussein verschwunden ist. "Es ist auch eine Botschaft an die Amerikaner", sagt ein Pilger. Diese Botschaft laute: "Wenn ihr Euch einmischt, werden wir Euch bekämpfen."
Die erste Wallfahrt in Freiheit ist ein politisches Ereignis
Schiitische Geistliche sind von überall her, aus ihrem Exil im Westen, aus dem Nachbarland Iran und aus dem ganzen Irak nach Kerbela gekommen und machen die erste Wallfahrt in Freiheit auch zu einem politischen Ereignis. Mehr als die Hälfte der Iraker sind Schiiten und leben im Süden Bagdads. Saddam Husseins Herrschaft stützte sich vor allem auf seine sunnitische Familie aus dem Norden des Landes.
Bei der Wahl der neuen Führung des Landes wollen die Schiiten nicht wieder an den Rand gedrängt werden. Zudem verbitten sie sich jede Einmischung in Angelegenheiten, die sie nach ihrer Ansicht besser selber regeln können. Als der Chef der zivilen US-Verwaltung für das kriegszerstörte Land am Vortag erstmals nach Bagdad reiste, warteten bereits schiitische Gläubige auf ihn und protestierten gegen die USA. "Wir wollen eine schiitische Führung", sagt der Wallfahrer von Kerbela. Die Amerikaner haben Freiheit und Demokratie versprochen.