Es war einer der dunkelsten Tage in Europas jüngerer Geschichte: der 13. November 2015, als im Zeitraum von nur 20 Minuten drei Gruppen von je drei Terroristen an sechs verschiedenen Orten Tod und Schrecken über Paris brachten. 130 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Für die Überlebenden, ihre Familien und für die Angehörigen der Toten sind die Folgen dieses Abends bis heute präsent.
Mehr als sieben Jahre nach den Anschlägen stehen nun die Urteile im französischen Mammut-Prozess bevor, der dieses Verbrechen aufzuarbeiten versucht hat. Egal wie die Geschworenen entscheiden, für Gerechtigkeit im Sinne der Opfer werden sie allenfalls notdürftig sorgen können. Nur einer der Haupttäter steht überhaupt vor Gericht, die anderen sind tot. Mitangeklagt sind eine Reihe Komplizen, die den Angreifern halfen.
An diesem letzten Tag, an dem die Mörder von Paris und ihre Helfer im Mittelpunkt stehen erinnert der stern an diejenigen, deren Leben bis heute gezeichnet sind vom Terror: Die Überlebenden, die die Spuren jenes schrecklichen Abends in Paris weiter an Körper und Seele tragen. Und an die Überlebenden anderer Terroranschläge in Europa, von Madrid bis Utøya, von Manchester bis Berlin.
Viele der Überlebenden schweigen heute. Sie wollen in Ruhe heilen und die schrecklichen Erlebnisse hinter sich lassen. Das grelle Licht der Öffentlichkeit hilft dabei wenig. Einige aber haben im Rahmen der stern-Dokumentation „Survivors – vom Leben nach dem Überleben“ Zeugnis abgelegt und berichtet, wie es gelingen kann, auch mit Wunden zurück ins Leben zu finden. Was sie wütend macht. Und welche Lehren sie aus dem Tag ziehen, als sie völlig wahllos in den Sog des Terrors gerieten. Im Urlaub, auf einem Konzert oder am Weihnachtsmarkt.
>>> Hier geht es zum "Survivors"-Podcast.
Russell Schulz | Breitscheidplatz, Berlin | 19. Dezember 2016
Der Weihnachtsmarkt gehört nicht zu den idyllischsten, aber er mag ihn. Jedes Jahr trifft Russell Schulz sich hier mit Freunden zum Glühweintrinken. Immer in derselben Bude. An diesem Adventsmontag 2016 ist die Stimmung ausgelassen. Die drei Männer sind beim zweiten Glühwein, als der Sattelzug mitten in den Weihnachtmarkt rast. Russell Schulz kann sich selbst aus den Trümmern des Glühweinstands befreien. Einen seiner Freunde hat der Lastwagen erfasst und sofort getötet, den anderen schwer verletzt. Der Anschlag fordert 12 Tote, mehr als 70 Menschen werden verletzt. Russell Schulz' Handverletzung können die Ärzte gut behandeln. Doch das Trauma jenes Abends macht ihm noch lange danach zu schaffen. Er möchte, dass auch etwas Gutes aus dem Terror entsteht. Seit dem Anschlag, sagt er, lebe er bewusster als zuvor. "Als ich aufstand, war ich voller Blut und der Glühweinstand komplett zerstört." Sehen Sie das Interview mit Russell Schulz im Video.

Martina Model | Blaue Moschee, Istanbul | 12. Januar 2016
"Lebenslust Reisen": So heißt der Veranstalter der Orient-Rundreise. Am ersten Morgen steht die Besichtigung der berühmten Blauen Moschee am Sultanahmet-Platz in der Istanbuler Altstadt an. Doch das Programm verzögert sich ein wenig. Die Gruppe sammelt sich am Obelisken nahe dem Eingang zur Moschee. Die Reiseführerin überbrückt die Wartezeit mit einem Exkurs über die Geschichte des Stadtviertels. Gegen 10 Uhr sprengt sich ein Terrorist mitten unter den deutschen Touristen in die Luft.
Zwölf Menschen sterben, 16 werden verletzt. Ein Bombensplitter durchschlägt den Unterschenkel der Hotel-Inhaberin aus Dresden, ihr Mann verliert einen Teil des Gehörs. Bis heute kämpft die 67-Jährige mit der Angst, wenn sie sich außerhalb ihrer Wohnung an öffentlichen Orten bewegt. Weil sie keine Erinnerung an die Tat hat, gelingt es ihr noch immer nicht, die Furcht vor neuem Terror zu überwinden. "Bei jedem Attentat, egal ob es Nizza oder Brüssel, ist man wieder mittendrin." Im Video spricht Model über ihren Kampf mit dem Trauma.

Adrian Esper | al-Ghriba-Synagoge, Djerba | 11. April 2002
Die Besichtigung der al-Ghriba-Synagoge hat schon begonnen, da merkt der dreijährige Adrian: Alle Männer tragen Kippa. Er möchte auch eine haben. Und läuft von der Touristengruppe mit seinen Eltern weg Richtung Eingang, wo der Korb mit den Kopfbedeckungen für Besucher steht. In diesem Augenblick explodiert vor dem Gotteshaus ein Lastwagen mit 5000 Litern Flüssiggas.
Der Junge erleidet Verbrennungen zweiten und dritten Grades an 40 Prozent der Haut. Der Anschlag fordert 19 Todesopfer und 30 Verletzte. In den zwölf Jahren nach dem Anschlag hat Adrian Esper mehr als 60 Operationen überstanden. Vergangenes Jahr hat er sein Abitur bestanden. Heute studiert der 20-Jährige aus Bergkamen im zweiten Semester Psychologie. "Hass und Angst ist die falsche Reaktion auf einen Terroranschlag", sagt Adrian Esper im Video-Interview.

Grégory Reibenberg | Bistro "La Belle Équipe“, Paris | 13. November 2015
Die Terrasse seiner Brassiere "La Belle Équipe" ist voll besetzt, als die beiden Terroristen aus dem VW Polo springen und anfangen zu schießen. 20 Menschen sterben. Darunter auch Djamila, die Mutter seiner damals acht Jahre alten Tochter.
Heute ist Tess elf und erinnert ihn immer öfter an ihre Mutter. Wenn er sie schlafen sieht. Wenn sie Djamilas Schuhe und Kleider trägt. Manchmal fällt es ihm schwer, stark zu bleiben. Aber er reißt sich zusammen. Für seine Tochter. Sein Motto verrät er im Video-Interview: "Du musst deinem Leben ein Lächeln schenken".

Hager Ben Aouissi | Promenade des Anglais, Nizza | 14. Juli 2016
Das Feuerwerk zum Nationalfeiertag ist gerade vorbei, als der Attentäter den 19-Tonner in die Menge der Flaneure auf der Promenade des Anglais steuert. Tausende genießen den festlichen Sommerabend auf Nizzas palmenbestandener Prachtstraße am Mittelmeer.
Hager Ben Aouissi wirft sich schützend über ihre damals vierjährige Tochter. Die beiden werden überrollt. Im Video-Interview (unten) schildert sie, was sie in dieser Sekunde dachte: "Entweder wir haben Glück und überleben oder sie finden meine Tochter unter meinem Körper". Abgesehen von einer Schnittwunde am Ohr der Mutter bleiben beide unverletzt. Um sie herum sterben 86 Menschen, mehr als 400 werden verletzt.
Seither leidet das kleine Mädchen jede Nacht unter Albträumen. Schlaf findet sie nur im Bett der Mutter. Wenn sie Lkw-Geräusche hört, nässt sie sich ein.

Marine Vincent | London Bridge, London | 3. Juni 2017
An jenem lauen Sommerabend sitzt Marine Vincent mit ihrer Freundin Marie vor einem Bistro, als Islamisten mit Messern wahllos auf Menschen einstechen. Eines trifft ihre Freundin. Als Vincent Hilfe holen will, läuft auch sie in die Klinge eines Attentäters.
Acht Menschen sterben, 40 überleben verletzt. Vincent liegt tagelang im Koma. Die Pharmakologin betrachtet sich als Kriegsopfer. Sie sagt: "Ich möchte wissen, welche Gründe die Täter haben. Selbst wenn wir sie nicht verstehen." Ein halbes Jahr nach dem Anschlag nahm Vincent ihre Arbeit als Apothekerin in London wieder auf. Sie hat gelernt mit ihren Narben zu leben. Im Video-Interview sagt sie: "Sie sind Teil meiner Reise, Teil meiner Geschichte."

Adam Lawler | Manchester Arena, Manchester | 22. Mai 2017
Adam und Olivia sind beste Freunde. Wochenlang haben sie dem Ariana-Grande-Konzert in der Manchester Arena entgegengefiebert. Doch als sich ein Attentäter inmitten der jungen Fans in die Luft sprengt, wird der Abend zum Albtraum. Olivia kommt ums Leben. Adam wird von Bombensplittern getroffen und schwer verletzt.
Adam ist inzwischen 17. Über den Abend des Anschlags möchte er bis heute nicht sprechen. Er ist noch immer voller Wut. Manchmal malt er sich aus, wie er den Attentäter nachträglich umbringt.
Doch er hat sich vom Terror nicht seinen Lebensmut nehmen lassen. Adam ist ein guter Schüler. Und ein Manchester-Lokalpatriot. Das klingt bei jedem seiner Worte mit. Später einmal möchte er fürs Radio arbeiten. "Wir zeigen dir den Mittelfinger – als eine Gesellschaft und eine Stadt", sagt Lawler im Video-Interview auf die Frage, was er über den Täter denkt.

Noumouké Sidibé | Bataclan, Paris |13. November 2015
Die US-Rockband "Eagles of Death Metal" spielen gerade ihren Song "Kiss the devil". Da beginnen drei Terroristen mit Sturmgewehren, in die Menge aus 1500 Konzertbesuchern zu feuern. Wenig später werfen sie Handgranaten in den Konzertsaal.
Die Fluchtwege sind versperrt. Doch der Sicherheitschef des "Bataclan" kennt einen Ausweg. Er zieht eine faltbare Feuertreppe aus der Decke links der Bühne. In den folgenden Minuten hieven er und seine Kollegen mehr als 50 Menschen auf die Treppe. Von dort gelangen sie aufs Dach und über eine Nachbarwohnung in Sicherheit.
Frankreich feiert Noumouké Sidibé als Helden. Doch das Trauma jenes Abends mit 90 Toten und 99 Verletzten allein im "Bataclan" hat er bis heute nicht überwunden. Er ist arbeitsunfähig und kümmert sich nun ehrenamtlich um die Jugendarbeit des Fußball-Klubs seiner Heimatstadt nahe Paris. "Man muss versuchen weiterzuleben", sagt er im Video-Interview.

Emma Martinovic | Utøya, Norwegen |22. Juli 2011
Die ersten Jugendlichen, die den Attentäter sehen, gehen noch auf ihn zu und sprechen ihn an. Schließlich trägt er eine Polizeiuniform. Das weckt Vertrauen. Doch dann beginnt der blonde Mann aus seinem Sturmgewehr auf die Camper im Sommerlager der norwegischen Arbeiterpartei zu schießen. Manche richtet er aus nächster Nähe hin.
Emma Martinovic hört die Schüsse und erkennt den Ernst der Lage. Sie lotst die Mitglieder ihrer Jugendgruppe zum Strand und treibt sie ins Wasser. Der Attentäter schießt ihnen noch hinterher, doch da sind sie schon weit draußen im Fjord. Andere haben nicht so ein Glück. 69 Menschen sterben an diesem Tag auf der Insel, zehn davon sind Freunde von Emma Martinovic. 66 werden verletzt. Mehr als 650 bleiben unverletzt aber traumatisiert zurück. "Ein Mann dachte, er könne die Insel töten, aber das ist ihm nicht gelungen", sagt Martinovic im Video-Gespräch.
Auch ihr macht das Trauma noch jahrelang zu schaffen. Heute sagt Emma Martinovic: Mutter zu werden habe ihr geholfen, den Terror hinter sich zu lassen.

Luis und Paloma Ahijado | Vorortzüge und Flughafen, Madrid | 2004 und 2006
Es ist nicht nur die monströse Gewalt, aus der der Terror seine Wirkung zieht. Es ist vor allem auch seine gnadenlose Beliebigkeit. Diese Familie hat er zweimal heimgesucht. Den Sohn im März 2004 im Zug zur Arbeit. Die Mutter zweieinhalb Jahre später an ihrem Arbeitsplatz im Flughafen Barajas nahe der spanischen Hauptstadt.
Beim Anschlag auf die Madrider Vorortzüge sterben 191 Menschen, mehr als 1800 werden verletzt. Am Flughafen fordert die zweite Terrorattacke zwei Todesopfer und 41 Verletzte.
Der Sohn wird schwer verletzt und findet doch zurück ins Leben. Die Mutter überlebt unversehrt. Aber ein normaler Alltag ist für sie seitdem unmöglich. Mit jedem neuen Anschlag - egal wo auf der Welt - durchlebt sie den Horror aufs Neue. "Ich verzeihe ihnen nicht, was sie meinem Sohn angetan haben", sagt sie hier im Video.

"Survivors" ist als Kooperation von stern, "Tagesanzeiger" (Schweiz) und "Guardian Weekend Magazine" (Großbritannien) entstanden.