Stellt sich die Frage zu früh? Nein, da sind sich alle einig. Aber schnell gehen wird es nicht, auch so viel ist sicher.
Die Ukraine soll wiederaufgebaut werden, demokratisch, grün und digital verwaltet. So lautet das formulierte Vorhaben und Versprechen von rund 40 Staaten nach einer zweitägigen Wiederaufbau-Konferenz in der Schweiz. Es wird nicht die letzte gewesen sein.
Das kriegszerstörte Land befindet wird seit 133 Tagen unter dem Eindruck eines brutalen Angriffs durch Russland, der bislang kein absehbares Ende kennt, aber zahllose Bilder der Verwüstung. Auch am Montag und Dienstag, als die Weltgemeinschaft in Lugano tagt, wird die Ukraine von russischen Raketen überzogen, finden erbitterte Gefechte vor allem im Osten des Landes statt.
Wenn kaum ein Stein mehr auf dem anderen ist – Vorher-Nachher-Bilder zeigen massive Kriegsschäden

"Jeder Tag, den Russland seinen abscheulichen Krieg gegen die Ukraine fortsetzt, ist ein Tag zu viel", meint auch Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD), die als deutsche Vertreterin an der Konferenz teilnimmt und der dabei die Dimension der Zerstörung noch einmal deutlich geworden ist. Wie lange der Wiederaufbau dauern wird? "Das ist kein Projekt für ein Jahr oder zwei", sagt sie.
Deutschland will 2024 die nächste Wiederaufbau-Konferenz ausrichten. Noch in diesem Jahr soll eine von der EU organisierte Konferenz stattfinden, 2023 will Großbritannien dann Gastgeber sein. Das ist der Zeithorizont, erstmal. Die Ukraine wird jede Hilfe gebrauchen können, Milliardengelder werden nötig sein.
Sieben Prinzipien für den Wiederaufbau der Ukraine
Allein in den Gebieten, aus denen russische Truppen wieder vertrieben worden seien, gebe es Zehntausende zerstörte Häuser, sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache am Montagabend. Zumal die Ukraine sich für den Winter wappnen müsse, unter anderem, um die Energieversorgung zu sichern. Große Teile der Wirtschaft seien durch den Krieg lahmgelegt worden, tausende Unternehmen stünden still.
Aber Selenskyj will mehr, als nur zerstörte Wände wieder hochziehen, wie er sagt: "Die Ukraine muss das freieste, modernste und sicherste Land in Europa werden." Sehr ehrgeizige Ziele, die mitunter den Reformbedarf illustrieren. In Lugano ist das Fundament dafür gelegt worden.
Konkret haben sich die Regierung aus Kiew und Vertreter von Geberländern, internationalen Organisationen und Finanzinstitutionen auf sieben Grundprinzipien geeinigt, festgehalten in der "Erklärung von Lugano". Darin geht es um:
- die Verpflichtung auf einen demokratischen Prozess, an dem die ganze Gesellschaft teil hat
- die Einbindung privater Unternehmen
- eine grüne Transformation hin zu einer CO2-freien Gesellschaft
- eine digitalisierte Verwaltung
- Aufbauprojekte frei von Vetternwirtschaft und Bereicherung
- einem transparenten Wiederaufbauprozess
- und einer systematischen Stärkung der Rechtsstaatlichkeit
"Die Korruptionsbekämpfung ist ein ganz wichtiges Thema", hält Entwicklungsministerin Schulze fest. Wahrscheinlich auch, damit das Geld auch dahin fließt, wo es hin soll, oder überhaupt erst ankommt. Trotz großer Reformanstrengungen stand die Ukraine vor dem Krieg im Korruptionsindex von Transparency International auf Platz 122 von 180.
Die ukrainische Regierung habe bereits digitale Plattformen für Regierungsdienstleistungen aufgebaut, die Korruption unmöglich machen sollen, sagt Regierungschef Denys Schmyhal. Dieser Ausbau soll weitergehen. Präsident Selenskyj verspricht "maximale Transparenz" bei allen Projekten.

Zwei Entwicklungen stimmen Markus Berndt, bei der Europäischen Investitionsbank (EIB) unter anderem für Aktivitäten mit der Ukraine zuständig, bei dem Vorhaben optimistisch: "Zum einen hat sich das Verhältnis der Ukrainer zu Regierung und Behörden durch den Krieg verbessert. Sie wissen, was sie an staatlichen Strukturen haben und wofür sie Steuern zahlen", sagt er zur Deutschen Presse-Agentur. "Zum anderen gibt die Perspektive für den EU-Beitritt einen klaren Rahmen, um Reformen umzusetzen."
Bei den Wiederaufbauplänen geht es gewissermaßen ums Prinzip, einerseits, aber auch um Perspektive, anderseits. Die Verpflichtung zur langanhaltenden Unterstützung der Ukraine wird bewusst schon jetzt "in Kriegszeiten" eingegangen, erklärt daher der gastgebende Schweizer Präsident Iganzio Cassis. "Das soll den Menschen in der Ukraine Hoffnung und die Gewissheit geben, dass sie nicht allein sind."
So verpflichten sich die rund 40 Unterzeichnerstaaten generell, "die Ukraine auf ihrem Weg von der kurzfristigen bis zur langfristigen Erholung zu unterstützen." Dabei müsse Kiew die Prozesshoheit haben. Zudem wird in der "Erklärung von Lugano" ausdrücklich auf "die europäische Perspektive und den EU-Kandidatenstatus" des Landes verwiesen und die Notwendigkeit von Reformen betont. Insofern sollen die Wiederaufbaupläne von Lugano auch ein sicherer Wegweiser in die anspruchsvolle EU-Staatengemeinschaft sein (mehr dazu lesen Sie hier).
Der Winter naht
Der ukrainische Regierungschef Schmyhal hofft unter dem Strich, dass "alles, was zerstört wurde, besser gemacht wird als es war". Und schätzt die Kosten für den Wiederaufbau auf mindestens 750 Milliarden Dollar (knapp 720 Milliarden Euro).
Freilich eine beträchtliche Summe – und vielleicht doch zu wenig, glaubt der renommierte Militärexperte Carlo Masala. Er zeigt sich im aktuellen stern-Podcast "Ukraine – die Lage" wenig optimistisch, dass die veranschlagten Mittel reichen – und tatsächlich von den westlichen Partnern aufgebracht werden können (mehr dazu hören Sie hier).
Also soll auch der Aggressor für die Kriegsschäden aufkommen: 300 bis 500 Milliarden Dollar an russischen Vermögenswerten sollen herangezogen werden, die weltweit eingefroren sind, fordert Regierungschef Schmyhal, der den Vorschlag auch als Botschaft verstanden wissen will. "Russland und anderen möglichen Aggressoren muss klar sein, dass sie für grundlose und ungerechtfertigte Angriffe zahlen müssen", sagt er.
Die nun dringendste Aufgabe ist aber die Vorbereitung auf den Winter, meint Entwicklungsministerin Schulze. "Es muss bis zum Winter gelingen dass die Menschen eine warme Wohnung haben, nicht nur ein Dach über den Kopf", so Schulze. "Die Heizsaison beginnt schon im September, Oktober und das in dieser kurzen Zeit hinzubekommen, wird noch eine Riesenkraftanstrengung sein."
Auch wenn der Krieg sich womöglich noch Monate oder Jahre hinzieht, bleibt beim raschen Wiederaufbau der Ukraine also keine Zeit zu verlieren. Andernfalls könnte ein Kollaps der Wirtschaft drohen, die Infrastruktur vollends zusammenbrechen.
Stellt sich die Frage nach einem Wiederaufbau der Ukraine zu früh? Nicht in Lugano.