Ukraine-Krieg Von wegen unabhängige "Volksrepubliken" – was wirklich hinter der Anerkennung der Ostukraine steckte

Anwohner in Doenzk feiern die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit durch Russland
Russland hat die "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk als unabhängig anerkannt. Das wurde von einigen Anhängern der Region gefeiert.
© lexander Ryumin / Tass / DPA
Mit der Anerkennung zweier Regionen in der Ostukraine als unabhängige "Volksrepubliken" wurde Russland international scharf kritisiert. Jetzt haben Putins Truppen die gesamte Ukraine überfallen. Wofür dann das Vorgeplänkel?

Es ist passiert, wovor sich der Westen und die Ukraine seit Wochen fürchten: Russlands Präsident Wladimir Putin hat seine Truppen über die Grenzen einmarschieren lassen. Und das, obwohl Moskau in den vergangenen Wochen immer wieder betont hatte, dass niemand einen Überfall auf die Ukraine plane. Es ist der Gipfel der Provokation – und ein weiterer Angriff auf die völkerrechtlich festgeschriebene Integrität und Souveränität der Ukraine. Dass die russische Regierung erst vor zwei Tagen die östlichen Regionen im Donbass, Donezk und Luhansk, als unabhängige "Volksrepubliken" anerkannt hatte, wurde von westlicher Seite aus hart sanktioniert.

Doch es stellt sich die Frage: Warum hat sich Putin die Mühe gemacht, den Donbass zu hofieren, wenn er es ohenhin auf die gesamte Ukraine abgesehen hat?

Ukrainische Integrität – eine historische Einordnung

Nach dem Fall der Sowjetunion wurde der Ukraine international nach dem Völkerrecht territoriale Integrität zugesprochen. Ein Überblick der wichtigsten Ereignisse:

1991: Das Budapester Memorandum wurde mit dem Ende der Sowjetunion unterzeichnet. Darin sicherten die USA, Russland und Großbritannien den Staaten Belarus, Ukraine und Kasachstan territoriale Integrität zu. Einzige Voraussetzung: Sie verzichten auf Nuklearwaffen (die sich nach Auflösung der Sowjetunion auf deren Territorium befanden).

2014: Russland besetzt die Krim und verletzt damit nicht nur das Budapester Memorandum, sondern auch das Völkerrecht. In der Folge erklären sich die östlichen und pro-russisch eingestellten Regionen im Donbass – Donezk und Luhansk – für unabhängige "Volksrepubliken". Möglich wurde dies, indem Russland inoffiziell Soldaten in diese Regionen einschleuste und damit die Regierungen militärisch entmachtete. Mit dem Protokoll von Minsk verständigten sich die OSZE, Russland und die Ukraine auf einen Waffenstillstand.

2015: Deutschland und Frankreich bringen ein zweites Waffenstillstandabkommen – "Minsk II" – auf den Weg, nachdem die Waffenruhe nicht eingehalten wurde.

2022: Russland erkennt die beiden "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk als unabhängig an und weist somit den Minsker Friedensvertrag zurück.

"Die Regionen Donezk und Luhansk haben eigentlich überhaupt keine wirtschaftliche Bedeutung für Russland", sagt Alexander Wöll, Vorsitzender der Deutschen Assoziation der Ukrainisten e.V. und Professor für Kultur und Literatur Mittel- und Osteuropas an der Universität in Postdam. Ähnlich sei es mit der Krim, "die ist nur teuer", allerdings kann Russland durch die Annexion den gesamten Schwarzmeerraum Richtung Orient militärisch abdecken. "Luhansk und Donezk braucht Putin für nichts in der Welt." Wöll ist jedoch überzeugt, dass Putin die Regionen genutzt habe, um den Ukraine-Krieg vorzubereiten. Den Menschen einzureden, dass dort ein Genozid stattfindet und Russland die Region zum Schutz der Bevölkerung annektiert habe, sei Schwachsinn. "Aber es ist die Vorbereitung auf den Krieg" – der nun tatsächlich gefolgt ist.

Ostukraine kein eigenständiger Staat

Im Gespräch mit dem stern spricht Wöll ohnehin lieber von Annexion als von einer Anerkennung der Unabhängigkeit. Russland habe den Osten des Landes praktisch schon während des Ukraine-Konfliktes 2014/15 militärisch besetzt – auch wenn die damals einmarschierten Soldaten aufgrund fehlender Uniformen nicht als solche erkennbar gewesen seien. "So konnte Russland die Anschuldigungen einer Besetzung von sich weisen und sagen, die Menschen vor Ort hätten sich ihre Unabhängigkeit erkämpft", erklärt Wöll.

Stefan Oeter, Rechtsprofessor am Institut für Internationale Angelegenheiten der Universität Hamburg, spricht von einer "über das russische Militär inszenierten Abspaltung". Die Republik Nord-Zypern sei ein ähnlicher Fall. Das Inselteil wurde vor rund 50 Jahren von der Türkei besetzt, die internationale Staatengemeinschaft erkennt es bis heute nicht als Staat an. "Im Grunde handelt es sich um Kunstgebilde, die von Russland abhängig und durchsetzt sind mit russischen Militärs und Geheimdienstleuten", sagt Oeter.

Laut dem Völkerrecht steht es Regionen zu, sich von einem Staat loszusagen. Aber: "Es gibt die eiserne Regel, die besagt, dass sich Drittstaaten nicht einmischen dürfen, solange der Vorgang nicht abgeschlossen ist", erklärt Oeter. Soll heißen: Der Staat muss der Souveränität einer bestimmten Region innerhalb der Landesgrenzen erst zustimmen. Eine vorzeitige Anerkennung, wie im Fall der Ostukraine, "ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht und gegen das Interventionsverbot".

"Frieden ist keine Selbstverständlichkeit

Zu behaupten, die Bürger in der Ostukraine hätten die Regierung vor Ort um der Unabhängigkeit Willen gestürzt, bezeichnet Wöll deshalb als Farce. Dass Putin erst nach sieben Jahren die Ostukraine als unabhängig anerkennt, gehöre zu einer langfristigen Strategie. Ein Vorhaben, das er bereits in Transnistrien in Moladwien und Südossetien in Georgien angewandt habe. Beide Staaten gelten als Nato-Anwärter. Die militärischen Interventionen dienten laut Wöll dazu, den Beitritt zu verhindern. Mitglied werden können nur Staaten ohne militärische Konflikte im eigenen Land. Deshalb sei Ukraine dem weslichen Militärbündnis bisher auch nicht beigetreten.

So schnell wird sich die Chance künftig auch nicht ergeben, denn mit dem russischen Einmarsch hat Putin eine klare Kriegserklärung ausgesprochen. Der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete den Einmarsch als "brutalen kriegerischen Akt". Es sei eine vorsätzliche, kaltblütige und von langer Hand geplante Invasion, sagte er in Brüssel. "Wir haben jetzt einen Krieg in Europa in einem Ausmaß und einer Art, von der wir dachten, sie gehöre der Vergangenheit an." Stoltenberg sprach von "einer neuen Normalität für unsere Sicherheit" – nicht ohne hinzuzufügen: "Frieden ist keine Selbstverständlichkeit."

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