Möglicherweise wird Mariupol eines Tages für diesen Krieg stehen, für all das Grauen und das Leid – das sich seit nunmehr drei Wochen in der belagerten und bombardierten Hafenstadt zu ballen scheint.
Schon jetzt ist die umkämpfte Metropole am Asowschen Meer ein Symbol des Schreckens. Wer kann, der flieht. Aus den Trümmerwüsten, die russische Streitkräfte hinterlassen haben. Vorbei an ausgebrannten Autos. Entlang verkohlter Häuserskelette.
Die Bilder sind allgegenwärtig. Von der bombardierten Geburtsklinik...

... oder des zerstörten Stadttheaters...

...und qualmenden Häuserblocks.

Es gibt Dutzende Aufnahmen aus der Stadt, in der einst rund 440.000 Menschen lebten. Nun sollen es noch 130.000 Bewohner sein, jedenfalls nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums. Unabhängig überprüfen lässt sich das nicht. Anderen Schätzungen zufolge sollen sich noch mehr als 300.000 Menschen in Mariupol befinden.
Eduard Zarubin ist geflohen. Er sagt: "Wenn dieser Krieg endet und wir gewonnen haben, dann wird es Exkursionen nach Mariupol geben wie nach Tschernobyl", also der verlassenen Atomruine, in der sich 1986 das schlimmste Reaktorunglück der Geschichte ereignete. "Damit die Menschen verstehen, was für apokalyptische Dinge passieren können."

"Du gehst ins Bett und weißt nicht, was als nächstes passieren wird"
Nach Angaben der ukrainischen Militärverwaltung sind in Mariuopol mittlerweile "mehr als 80 Prozent der Infrastruktur beschädigt oder zerstört". Die humanitäre Lage dort ist laut der Uno "äußerst ernst", mit "einem kritischen und potenziell lebensbedrohlichen Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten". Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nannte "das, was in Mariupol geschieht, ein schweres Kriegsverbrechen".

Vor seiner Flucht lebte Eduard Zarubin, ein Urologe, in einer der wohlhabenderen Gegenden Mariupols, erzählt er der "New York Times". Und er lebte ein angenehmes Leben. Dann begann der Beschuss. Und mit dem Beschuss die Zerstörung – der Wasserzufuhr, Energieversorgung und Funkmasten. Rund 13 Kilometer legten Zarubin und sein Sohn am Tag zurück, erzählt er der Zeitung, um Wasser für seine Familie zu finden.
Mit dem Beschuss wuchs auch die Verzweiflung. Die eingekesselten Bewohner der Stadt plünderten Geschäfte und Apotheken, berichtet Zarubin der Zeitung. "Jeden Tag gab es etwas Neues", sagt er über die Zerstörung in Mariupol. Das Stadtbild habe sich derart schnell und dynamisch verändert, als würde man sich in einem Film befinden. "Du gehst raus und erkennst die Stadt nicht wieder. Am nächsten Tag gehst du wieder raus und erkennst die Stadt erneut nicht wieder."

Auch der Alltag von Albertas Tamashauskas, einst Angestellter im Stadtplanungsbüro von Mariupol, sollte sich mit der russischen Invasion radikal verändern. Am 23. Februar, also einen Tag vor Beginn des Angriffkrieges, habe er noch ein Meeting gehabt, um den Bau neuer Fahrradwege für die Stadt festzuzurren. Kurz darauf wich die Stadtplanung der Suche nach Wasser und Feuerholz, um kochen zu können, wie er der "New York Times" erzählt. "Auf der Straße war ein Park", wird Tamashauskas zitiert, "wir haben Bäume gefällt und Feuerholz zerhackt. Am Abend mussten wir es in den Keller bringen, weil so viel geplündert wurde."

"Natürlich ist Krieg beängstigend", sagt Tamashauskas dem Blatt. "Aber das Schlimmste ist, dass man keinen Sinn für morgen hat. Du gehst ins Bett und weißt nicht, was als nächstes passieren wird." Schließlich hätten er und seine schwangere Frau jeweils einen Rucksack gepackt und die Stadt verlassen. Sie seien jetzt in der Region Saporischschja in Sicherheit.
"Stellt euch vor, Genua wird komplett zerstört"
Seit nunmehr drei Wochen wird Mariupol von russischen Truppen eingekreist und bombardiert, ist damit praktisch von der Außenwelt abgeschnitten – von der Lieferung von Hilfsgütern, aber auch von Informationen. "Du sitzt in einem Informationsvakuum", beschreibt es Irina Peredey der "New York Times".
Weder das Internet noch Festnetz funktionierten. "Du verstehst nicht, was passiert, oder ob Hilfe in die Stadt kommt oder nicht." Sie selbst habe angefangen, Schnee und Regenwasser aufzufangen, um kochen zu können. "Es ist wirklich sehr schwierig, wenn du nicht verstehst, wie lange es dauern wird oder was als nächstes passieren wird", sagt sie, "also nutzt du jede Gelegenheit, etwas einzusammeln."

Neben der Infrastruktur liegen auch die Institutionen brach, sagt Peredey. Die Polizei hätte aufgehört zu arbeiten, ebenso die Rettungsdienste. Die Krankenwagen könnten in den zerbombten Straßen kaum fahren. Ein Postamt sei zu einer Leichenhalle umfunktioniert worden. Derweil harren Tausende Menschen in Bombenkellern ohne Strom, fließend Wasser und Heizung aus – mitunter bei Minusgraden.

Der Vizechef des ukrainischen Präsidentenbüros, Ihor Schowka, nannte die russischen Angriffe auf Mariupol "Völkermord". Alle 15 Minuten würden dort russische Raketen einschlagen, sagte er im ZDF-"Morgenmagazin" laut Simultanübersetzung des Senders. Bei den Angriffen würden jeden Tag Zivilisten getroffen. Die Behörden sprechen von rund 2500 Toten. Überprüfen lassen sich diese Angaben nicht.

Auch das Moskauer Staatsfernsehen zeigt Trümmerteile, zerstörte Autos und ausgebrannte Häuser – die Kreml-Propaganda behauptet, ukrainische nationalistische Kämpfer hätten die Gebäude zerstört und Menschen als Geiseln genommen.
Entsetzt reagiert die Stadtverwaltung am Wochenende auf die Moskauer Fernsehberichte, viele Menschen aus Mariupol seien nach Russland geflohen. Zu sehen sind Menschen, die sich erleichtert zeigen, in Sicherheit zu sein. Die ukrainischen Behörden sprechen hingegen von Verschleppung.
Bürgermeister Wadym Bojtschenko vergleicht das Vorgehen mit dem Abtransport von Zwangsarbeitern während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. "Nicht nur, dass die russischen Truppen unser friedliches Mariupol vernichten, sie gehen noch weiter und haben begonnen, die Mariupoler aus dem Land zu bringen", sagt der 44-Jährige am Samstag.

Ein Ende der schweren Kämpfe ist vorerst nicht absehbar. Ein Ultimatum der russischen Truppen an die Ukrainer, die Stadt ohne Waffen zu verlassen, lehnte die ukrainische Führung am Montag ab. "Es wird keine Kapitulation, kein Niederlegen der Waffen geben", sagte Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk der "Ukrajinska Prawda". Russland hatte am Sonntag die ukrainischen Truppen aufgefordert, die Waffen niederzulegen und die Stadt im Südosten der Ukraine am Montagvormittag über einen Fluchtkorridor zu verlassen.
An diesem Dienstag sollen in Mariupol nach Regierungsangaben drei Fluchtkorridore geöffnet werden. Die Menschen sollen aus den umliegenden Orten Berdjansk, Jurjiwka und Nikolske in die Großstadt Saporischschja gebracht werden, wie Vizeregierungschefin Wereschtschuk mitteilte.

Allerdings sei klar, dass es nicht genügend Plätze geben werde. Deswegen bitte man die Bürgerinnen und Bürger, den Anweisungen der Behördenvertreter vor Ort zu folgen und organisiert zu den Bussen zu gehen. Wereschtschuk versprach, niemand werde zurückgelassen. Man führe weiter täglich Evakuierung durch, bis alle Menschen aus der Stadt gebracht worden seien.
Derweil hat sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videoschalte an das italienische Parlament gewendet. Zuvor hatte er schon vor dem US-Kongress und im Deutschen Bundestag an die Weltgemeinschaft appelliert, die Ukraine im Kampf gegen den russischen Aggressor zu unterstützen. Vor dem italienischen Parlament erinnerte Selenskyj am Dienstag auch an das Leid der Menschen in Mariupol. "Mariupol ist ähnlich groß wie Genua.", sagte er mit Blick auf die italienische Hafenstadt. "Stellt euch vor, Genua wird komplett zerstört."
Ein Gedanke, der sich der Vorstellungskraft entzieht – und doch wird er in Mariupol zunehmend Wirklichkeit.
Quellen: "New York Times", mit Material der Nachrichtenagenturen DPA und AFP