Die Kreml-Astrologie war früher einmal eine beliebte Disziplin unter Kennern der Sowjetunion. Im Wesentlichen ging es darum, die undurchsichtige Politik der UdSSR zu entschlüsseln und daraus Rückschlüsse auf die aktuellen Machtverhältnisse zu ziehen. Meist stocherten die Kreml-Astrologen allerdings in einem Nebel aus Propaganda und Geheimniskrämerei herum, sehr oft mit dem Bild eines Landes vor Augen, das Karl Marx 100 Jahre zuvor als "rückständig, finster und dämonisch" beschrieben hatte. Die Sowjetunion gibt es seit 30 Jahren nicht mehr, doch die Kunst des Kreml-Lesens ist wieder gefragt – wie so viele andere, längst in Geschichtsakten gelegte Begriffe aus dem Kalten Krieg.
Was will Wladimir Putin?
Seitdem Russland an seiner Westgrenze zur Ukraine begonnen hat, Soldat um Soldat aufzufahren, grassiert in der früheren Sowjetrepublik als auch im Westen die Kriegsangst. Gebannt blickt die halbe Welt nach Moskau und fragt sich, was der Präsident hinter den Kremlmauern wohl planen mag. Lässt Wladimir Putin seine Truppen tatsächlich ins Nachbarland einmarschieren? Im vollen Risiko, eine völlig unnötige militärische Eskalation zu provozieren? Oder rasselt er mit den Säbeln, um die Rolle Russlands auf der Weltbühne zu betonen? Geht es ihm darum, von inneren Problemen abzulenken? Oder zündelt Putin nur der Unruhe willens herum, um einen uneinigen Westen weiter zu spalten?
Vermutlich gibt es auf diese Fragen mehr Antworten als für den Erkenntnisgewinn wünschenswert wäre. Die Russland-Expertin Margareta Mommsen vermisst deshalb die Kreml-Astrologie. "Sie ist aus der Mode gekommen", sagte sie vergangenen Sommer in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, doch die mangelnde Russland-Expertise in Deutschland sei beklagenswert, so die Politologin. "Es war wirklich äußerst bedauerlich, dass man nach dem Ende des Kalten Krieges die bestehenden Forschungsstellen einfach zu sehr dezimiert hat", so Mommsen.
Die Kreml-Astrologie ist eine Art Seitenstrang der "Sowjetologie", die sich ebenfalls mit der Interpretation sowjetischen Verhaltens beschäftigte. Und indirekt die Grundlage des Kalten Kriegs schuf – zumindest im Westen. George F. Kennan, einstiger Planungschef im US-Außenministerium, verfasste 1947 das so genannte "lange Telegramm" in dem er die Politik der Sowjetunion skizzierte. Er kam zu dem Schluss, dass der Kreml "paranoid" sei und sich in einer Art Dauerkriegszustand mit dem kapitalistischen Westen wähne. Kennan empfahl eine "Eindämmungspolitik" gegenüber der UdSSR und legte damit die Grundlage für Truman-Doktrin. Aus dieser leiteten die USA wiederum den Anspruch ab, sich als globale Ordnungsmacht der Verbreitung des Kommunismus entgegenzustellen.
Sollbruchstelle Ukraine
Die Sollbruchstelle des "neuen kalten Kriegs" ist die Ukraine. Die ehemalige Sowjetrepublik orientiert sich seit einigen Jahren zunehmend Richtung Westen und Nato. Auch oder vor allem, nachdem sich Russland die Krim angeeignet und damit unter anderem gegen das Budapester Memorandum verstoßen hat. Darin hatte Moskau einst zugesichert, die Integrität der ukrainischen Grenzen zu respektieren. Für die USA und die EU ist das Land daher der Vorposten einer neuen Eindämmungspolitik, die die Russen auf Abstand halten soll. Moskau betrachtet den souveränen Staat als eine Art "natürlichen" Teil Russlands, mit dessen Hilfe wiederum der Einfluss des Westens eingedämmt werden soll.
In diesem Zusammenhang fällt wieder oft das Wort "Einflusssphäre". Auch so ein Begriff aus längst vergangenen Tagen. Dahinter steht im Wesentlichen ein übergriffiges Verhalten von Großmächten. Im aktuellen Konflikt in Osteuropa betrachtet Russland die Ukraine als Teil ihrer "Interessenssphäre", über dessen Schicksal Moskau (mit-)bestimmen will. 1995 sagte Leonid Kutschma, zweiter Präsident der Ukraine: "Es gibt Kräfte in Russland, die nicht verstehen wollen, dass die Ukraine ein souveräner Staat ist. Das ist das Hauptproblem in unseren Beziehungen zu Russland." Mehr als 25 Jahre sind seitdem vergangen, doch geändert hat sich offenbar nicht viel. Vergangenen Sommer hatte Wladimir Putin einen geschichtspolitischen Aufsatz verfasst, in dem er der Ukraine schlichtweg das Existenzrecht abgesprochen hat. Auch die Fraktion der "Putin-Versteher" im Westen teilt die Ansicht, dass man Russland "Sicherheitsinteressen" in der Region zugestehen müsse.
Einflusssphären sind jedoch keine Erfindung autokratischer Staaten. Mit der Monroe-Doktrin von 1823 erklärten die damaligen USA den amerikanischen Doppelkontinent indirekt zu ihrer Einflusszone. Dieser Anspruch führte 1962 an den Rand eines dritten Weltkriegs, nachdem die Sowjetunion im verbündeten Kuba Atomraketen stationieren wollten. Das allerdings wollte der damalige US-Präsident John F. Kennedy in seinem "Hinterhof" nicht zulassen.
Auch die "Finnlandisierung" ist einer dieser Worte, die aus verstaubten Büchern hervorgeholt wurden. Den Begriff soll angeblich der frühere CSU-Politiker Franz-Josef Strauß geprägt haben. Damit wurde eine Art vorauseilender Gehorsam Finnlands gegenüber der Sowjetunion beschrieben. Finnland gehörte rund 100 Jahren zum Russischen Reich und orientierte sich nach der Unabhängigkeit und trotz Bündnisneutralität sehr stark an Moskau. Die finnische Autorin Sofi Oksanen sagte 2014: "Bei der Finnlandisierung ging es um reine Schaufensterpolitik für die Sowjetunion. In Wahrheit hat Moskau sogar kontrolliert, was in Finnland in Schulbüchern über die Sowjetunion geschrieben wurde." Damals warnte sie auch vor einer Finnlandisierung der Ukraine.
Wer geht ans Rote Telefon?
Viele Verbindungen führen nach Washington. Es gibt eine von Peking aus, eine von London, eine von Paris. Aber der wohl berühmteste "heiße Draht" führte über Kopenhagen, Stockholm und Helsinki nach Moskau. Oder umgekehrt von der russischen in die amerikanische Hauptstadt. Die Rede ist vom "Roten Telefon", das sinnbildlich für die direkte Kommunikation im Ernstfall steht. Während des Kalten Krieges ging es um nichts weniger als um die persönliche Vergewisserung, ob die Gegenseite tatsächlich einen Atomkrieg will oder einer gerade aus Versehen ausbricht. Benutzt wurde das Rote Telefon nur selten. Nicht jedoch 1983, als sowjetische Frühwarn-Satelliten wegen eines Fehlalarms den Start von US-Interkontinentalraketen meldeten. 2015 wurde der "heiße Draht" zwischen Russland und der Nato wieder reaktiviert. Anlass war die Ukraine-Krise.
Quellen: Deutschlandfunk, Deutsche Welle, "Zeit", "Süddeutsche Zeitung", "FAZ", IPG-Journal, DPA, AFP