Kiew hat ein Soldaten-Problem. Es sind zu wenige, und diejenigen, die gezogen werden, sind zu alt. Offizielle Zahlen werden unter Verschluss gehalten, doch Schätzungen im Westen gehen von einem Durchschnittsalter in der Truppe von etwa 45 Jahren aus. In einzelnen Einheiten soll es noch höher liegen. Regierungsberater Serhiy Leshchenko berichtete im Dezember von Fronteinheiten, bei denen der Durchschnitt 54 Jahre beträgt.
Die Londoner "Sunday Times" war bei einer Großvater-Einheit. "Das Durchschnittsalter eines Soldaten in meinem Bataillon beträgt 45 Jahre", so Dmytro Berlym, der Kommandeur des 403. Bataillons der 32. Brigade der Ukraine. Seine Einheit soll die Stadt Kupjansk im Norden schützen. Das Durchschnittsalter bedeutet: Für jeden Kämpfer im mittleren Alter von 35 kommt ein Mann von 55 Jahren. Auf einen 25-Jährigen sogar zwei.
"In diesem Alter wird es schwierig, Aufgaben zu erfüllen. Für manche ist es schon schwer, Munition und Körperschutz an die Front zu tragen", so Berlym zu dem Blatt. Die guten Leute gingen zur Neige, und die "Qualität der Verstärkung wird immer schlechter."
Überalterte Gesellschaft
Das liegt zum Teil an den ukrainischen Gesetzen. Ab 18 kann man sich freiwillig melden, doch gezogen wird man erst ab 27. Dieser Effekt schiebt den Altersdurchschnitt massiv nach oben. Eher ungern spricht man über die Massenflucht ukrainischer Männer ins Ausland. In der EU sollen sich über 600.000 Männer im wehrpflichtigen Alter aufhalten, und das sind nur die offiziellen Zahlen. Dazu kommen die Ukrainer, die in Russland oder Drittländern wie der Türkei Zuflucht gesucht haben. Und bereits vor dem Krieg hat die Ukraine einen Exodus der Jungen erlebt, nicht als Flucht vor dem Krieg, sondern vor Armut und Perspektivlosigkeit.
Dazu soll die Mobilisierung nicht fair verlaufen. Wer Beziehungen spielen lässt, kann sich freikaufen. Ende Dezember berichtete das "Wall Street Journal" über die Rekrutierungsmethoden. Ein Soldat mit dem Rufnamen Dubok wurde vor seinem Friseurladen verschleppt und in einem dunklen Raum festgehalten, bis er unterschrieb. Legal ist das "Kidnapping" nicht, aber eine gängige Methode. Eigentlich dachte der Elektroingenieur, dass er sich in einer Instandsetzungseinheit nützlich machen könnte. "Aber um so einen Job zu bekommen, muss man Bestechungsgelder zahlen", sagte er dem Blatt. Stattdessen wurde der 47-Jährige in die belagerte Stadt Awdijiwka geschickt. Eine Hölle, in der derzeit neben dem Brückenkopf über dem Dnjepr die schwersten Kämpfe toben. "Körperlich kann ich damit nicht umgehen", so Dubok. "Ich bin nicht mehr 20."
Schonung der städtischen Mittelschicht
"Eine Kombination aus Korruption, Ausnahmen und politischer Vorsicht hat einen Großteil der städtischen Mittelschicht der Ukraine davor bewahrt, in den kalten und schlammigen Schützengräben kämpfen zu müssen", analysierte das "WSJ" bitter. An der Front landen die alten Männer aus Dörfern und Kleinstädten, die zu arm waren, um sich freikaufen zu können. Das "WSJ" berichtete auch, wie es anders geht. Ein 30-jähriger Architekt aus Odessa zahlte umgerechnet 8000 Euro für ein falsches Attest, so konnte er ganz legal ausreisen.
Ihor Romanenko, Militäranalyst und ehemaliger ukrainischer Generalleutnant, sagt, dass die Einberufungspraxis auf Korruption zurückzuführen sei. Junge Menschen in Großstädten können sich häufiger Bestechungsgelder leisten, große Unternehmen schützen ihre Mitarbeiter vor der Einberufung. "Doch besonders in der Infanterie haben Menschen über 35 weniger Potenzial, ihren Auftrag zu erfüllen, als jüngere Männer." Im Krieg in der Ukraine trägt die Infanterie die Hauptlast der Kämpfe. Dabei werden die Soldaten ununterbrochen von Drohnen und Artillerie attackiert. Ohne körperliche Fitness haben die älteren Soldaten keine Chance. Vor allem dann, wenn der Gegner sie mit ausgesuchten Sturmtruppen angreift.
Die Ukraine braucht dringend neue Soldaten. Von 500.000 ist die Rede. Sie müssen die Verluste auffüllen, mit ihnen sollen neue Brigaden aufgestellt werden, und vor allem sollen sie eine Rotation der Fronttruppen ermöglichen. Von denen viele mit kurzen Pausen seit zwei Jahren im Einsatz sind.
Potenzial ist noch vorhanden
Wie das gelingen soll, ist derzeit unklar. Vom Bevölkerungspotenzial müsste es möglich sein, aber nur, wenn auch die Mittelschicht der großen Städte herangezogen wird. Das Reservoir an begeisterten Freiwilligen ist nach zwei Jahren Krieg ausgeschöpft. "Die traurigen Nachrichten von der Front halten die Bürger davon ab, sich uns anzuschließen", sagte Dobro, ein Drohnenoperator zum "WSJ". "Den Leuten wird klar, dass man nicht zur Infanterie gehen sollte, wenn man das Kriegsende erleben will."
Ein weiteres Problem: Zu Beginn des Krieges meldeten sich vor allem Ältere mit militärischer Erfahrung zu den Waffen. Nach zwei Jahren unablässiger Kämpfe sind sie ausgebrannt, wenn sie überlebt haben. Ein 50-Jähriger, der sich von seinen Verletzungen erholt, gestand der "Times": "Ich stehe kurz vor dem Zusammenbruch. Ich bin am ersten Kriegstag eingezogen, aber ich kann es nicht mehr ertragen. Aber wenn wir jüngere Männer an die Front bringen, kommen sie damit oft nicht klar. Wir werden von Raketen, Drohnen und weißem Phosphor getroffen. Sie verlieren den Verstand. Sie sind nicht bereit dafür." Nach der Genesung wird er wieder an die Front zurückkehren: "Ich darf die Jungs nicht im Stich lassen."
Quelle: London Times, WSJ, Reuters