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Beten für die Macht Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche hält an Allianz mit Putin fest – auch in seinem Krieg

Kyrill I.: Patriarch vom Moskau und Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche 
Kyrill I.: Patriarch vom Moskau und Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche 
© Sergey Pyatakov / Picture Alliance
Tausende Tote, Millionen Flüchtlinge – als "Krieg" bezeichnet Kyrill, Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, die Lage in der Ukraine nicht. Für den Moskauer Patriarchen steht viel auf dem Spiel. Doch seine Rolle spaltet die Glaubensgemeinschaft in beiden Ländern.

Die russische Invasion in der Ukraine ist kein Glaubenskrieg. Aber es ist ein Krieg, der im Glauben geführt wird. Immer dann, wenn Menschen Opfer eines bewaffneten Konflikts werden, spielt Religion eine Rolle – ob im Kleinen oder im Großen. Nicht anders verhält es sich in der Ukraine. Eine Schlüsselfigur, mit dessen Hilfe Putin seit Jahrzehnten die Macht im Kreml umklammert, ist Kyrill I., Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche.

In der Ukraine steht auch für den 75-jährigen Patriarchen von Moskau viel auf dem Spiel: Es geht um nicht weniger als die Hegemoniestellung seiner Kirche im orthodoxen Christentum. Sollte sich Russland die Ukraine einverleiben, würde dies das frühe Ende für den unabhängigen Zweig des ukrainischen Christentums bedeuten. Davon angetrieben scheut der machtbewusste Kleriker nicht vor der Instrumentalisierung des Glaubens zurück.

Kirchen in der Ukraine: ähnliches Etikett, anderer Inhalt

60 Prozent der Ukrainer bekennen sich zum Orthodoxen Christentum. Allerdings folgt diese Herde nicht nur einem Hirten. Es gibt nicht die Kirche in der Ukraine, sondern zwei Institutionen, die sich religiös kaum, politisch aber extrem unterscheiden.

Da ist zum einen die von Russland unabhängige Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) mit ihrem Oberhaupt, dem Metropoliten Epiphanius. 2019 erkannte der Patriarchat von Konstantinopel (Istanbul), die OKU als eigenständig an. Ein großer Schritt für den jungen Kirchenzweig: Denn laut einem Bericht der Deutschen Welle (DW) gilt Bartholomäus I. als "Ehrenoberhaupt" der rund 260 Millionen orthodoxen Christen weltweit.

Dann wäre da noch der "russische Gegenpart": Die Ukrainische Orthodoxen Kirche (UOK) gilt zwar als autonome Gemeinde innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche. Diese Eigenständigkeit existierte bisher aber mehr in der Theorie. Der "New York Times" zufolge steht der UOK weiterhin ein Großteil der ukrainischen Dorf- und Stadtkirchen loyal gegenüber. Im ganzen Land befänden sich etwa 12.000 Gemeinden unter russischer Kontrolle – nur 700 würden sich zur ukrainischen Kirche bekennen. Politische und religiöse Kenner in der Ukraine, so die US-Zeitung, sind der Ansicht, dass die UOK von Moskau infiltriert und als außenpolitisches Werkzeug des Kreml missbraucht wird.

Moskaus Patriarch: geistliches Oberhaupt im Dunstkreis Putins

Eine Sache haben die beiden Institutionen aber gemein: Sie nennen den Konflikt in der Ukraine beim Namen. Krieg ist Krieg – darauf kann man sich (größtenteils) einigen. Im Gegensatz zur russisch-orthodoxen Kirche selbst.

Als Kremlchef Wladimir Putin in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag vor zwei Wochen der Ukraine den Krieg erklärte, verhedderte er sich in seiner halbstündigen Fernsehansprache in wirren Argumenten. Eines davon: Vor den Landesgrenzen sei "ein uns feindliches 'Anti-Russland' geschaffen" worden – auf Territorium, dass Putin als "unsere historischen Gebiete" bezeichnete. Der Autokrat sprach damit der Ukraine kurzerhand die Existenz ab. Indirekte Unterstützung erhielt Putin vom Moskauer Patriarchen Kyrill. Als Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche kam der zwar nicht um ein Statement zum Kriegsausbruch herum. Oder besser gesagt, um ein Statement zur "Situation" – denn das Wort "Krieg" nahm der Kleriker in Putin-Manier nicht in den Mund. Stattdessen sprach Kyrill von "Meinungsverschiedenheiten" und einer "Tragödie", forderte "alle Konfliktparteien auf, alles zu tun, um Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden" und untermauerte Putins Angriffsrechtfertigung, indem er abermals eine vermeintlich gemeinsame Identität von Russen und Ukrainern betonte.

Auf der Machtebene hat Russlands geistliches Oberhaupt in der Ukraine ebenso viel zu gewinnen oder zu verlieren wie sein weltliches Pendant Putin. Kyrill betrachte das ukrainische Christentum als kanonisches Eigentum der russischen Kirche, heißt es in einem Meinungsstück der Online-Zeitung "EU Observer". Ein Sieg Russlands würde die eigenständige ukrainische Kirche wohl nicht überleben – Kyrills Gelegenheit die "verlorenen Schäfchen" wieder zurückzuholen. Denn die Abwendung vieler ukrainischer Gläubige hin zur unabhängigen OKU ist dem Patriarchen schon lange ein Dorn im Auge.

stern-Reporter Jonas Breng berichtet aus Lviv in der Ukraine

Von "bösen Kräften" und dem Märchen der Einheit

Somit geht die Bedeutung des Patriarchen weit über seine Funktion als religiöser Propagandist hinaus. Tatsächlich hat Kyrill Putin einen komfortablen – wenn auch erlogenen – Grund zum Einmarsch geliefert. Laut "EU Observer" erhält er "wöchentlich einen Bericht über Rechtsverletzungen, das Leid, das die Menschen erfahren ... Gewalt, Schläge, Kämpfe um Kirchen". Der US-Nachrichtenagentur AP zufolge hat Kyrill sogar behauptet, dass nicht näher benannte "äußere Feinde" den Bewohnern des Donbass zur Abhaltung einer Schwulenparade "zwingen" wollen.

Putin nahm dankend an. In seiner Rede vom 21. Februar, in der der Kremlchef die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk anerkannte, behauptete er, dass Kiew "weiterhin die Zerstörung der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats" vorbereite. Das gelte es zu verhindern.

Pfarrer Cyril Hovorun, Professor für Ekklesiologie, internationale Beziehungen und Ökumene am University College Stockholm, sieht laut AP, Kyrill in einem "goldenen Käfig" gefangen. Für seine uneingeschränkte Treue zu Putin habe seine Kirche zwar enorme staatliche Unterstützung erhalten. Doch, selbst wenn sich der Kleriker kritisch äußern wollte, habe er dazu keine Chance: "Er ist eine völlig unfreie Figur, die dem offiziellen Narrativ treu folgen muss", so Hovorun.

Auch Tage nach Invasionsbeginn mäßigte sich Kyrill nicht im Ton. Stattdessen sprach er von "bösen Kräften", die gegen die "Einheit der Rus" kämpfen. Ein "Garant für diese Gemeinschaft" sei eine geeinte Kirche. "'Woher kommt das russische Land', das Land, das heute Russland und die Ukraine und Weißrussland und andere Stämme und Völker umfasst", zitiert er buchstäblich ein Märchen.

Geistlicher Widerstand in der Ukraine

Doch Kyrills Tiraden wirken sich nicht nur auf russische Gläubige aus. Auch in der Ukraine spaltet der Moskauer Patriarch die Gemeinschaft. Egal, ob oder inwieweit Kyrills verquere Ideologie die russischen Gläubigen beeinflusst: Die Ukrainer lassen sich davon offenbar wenig blenden.

Der geistliche Widerstand regt sich: Dass der Moskauer Patriarch Russlands Rolle als Aggressor konsequent ignoriert, habe dazu geführt, dass sich sogar Bischöfe der russlandnahen UOK von der Mutterkirche abwenden und Anweisung geben, Kyrills Namen nicht mehr wie sonst üblich in Gebete einzuschließen. "In der Kirche ist damit eine große Wegbewegung von Moskau zu erkennen", sagt Thomas Bremer, Professor für Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung an der Universität Münster der Deutschen Welle.

Medienberichten zufolge haben Hunderte russisch-orthodoxe Geistliche trotz möglicherweise ernsten Konsequenzen einen offenen Brief unterzeichnet, in dem sie ein sofortiges Ende des Kriegs fordern. Sogar Metropolit Onufrij, Oberhaupt der UOK und damit eigentlich Kyrill unterstellt, hat den Angriff Russlands als Invasion bezeichnet, spricht aber von einem "Bruderkrieg".

In einer Fernsehpredigt kurz nach Kriegsausbruch sagte Metropolit Epiphanius, Patriarch er unabhängigen ukrainischen Kirche: "Liebe Brüder und Schwestern. Wir beten und wir handeln." Eines steht fest: Das ist besser als Beten und Leugnen.

Quellen: Deutsche Welle;"New York Times"; "Associated Press"; "EU Observer"; "The Conversation"

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