Der Krieg in der Ukraine geht in eine dritte, vermutlich entscheidende Phase. In der ersten Phase versuchte Russland in einer kühnen Operation mit mehreren tiefen Angriffskeilen die Ukraine in wenigen Tagen niederzuwerfen. Dieser Versuch scheiterte, am Ende der ersten Phase mussten sich die russischen Truppen nach schweren Verlusten vor Kiew und Charkow zurückziehen. Eine klare Niederlage für Putin, wobei man nicht vergessen sollte, dass die Russen in dieser Phase große Gebiete im Süden und Osten erobern und halten konnten.
Prinzip "Feuerwalze"
Dann begann die zweite Phase. Nach einer Umgruppierung der russischen Kräfte begann die Donbass-Offensive. Die Russen agierten vorsichtiger, versuchten eigene Verluste zu vermeiden und statt kühner Vorstöße setzten sie auf das Prinzip "Feuerwalze". Ihre überlegene schwere Artillerie zermürbte die ukrainischen Verteidiger und ebnete ihre Stellungen ein. Unstrittig ist, dass Russland die gesamte Oblast Luhansk erobern und Kiew die Doppelstadt Sewerodenetk und Lyssytschansk entreißen konnten. Das ist ohne Frage ein Erfolg für Moskau. Er wird relativiert durch die im Vergleich zum ersten Ansturm doch sehr begrenzten Gewinne.
Die entscheidende Größe in dieser Phase sind die Verluste beider Seiten an Mann und Gerät und sie werden streng geheim gehalten. Die Hoffnung Kiews und damit des Westens lautet: Die begrenzten Gewinne mussten sich Putins Truppen mit so starken Verlusten erkaufen, dass ihre Streitkräfte weitgehend zerschlissen sind. Einen Beleg dafür gibt es nicht. Zumal die Meldungen, dass die russische Offensive an Kraft verliert, Woche für Woche wiederholt werden. Ebenso gibt es begründete Zweifel daran, dass Kiews Truppen diese Phase weitgehend unbeschadet überstanden haben.
Vorbereitung zu zwei Offensiven in der Ukraine
Nach der Eroberung von Lyssytschansk folgte eine Zeit der Umgruppierung mit begrenzten Vorstößen und Probeangriffen. Nun hat die dritte Phase des Krieges begonnen, in der beide Seiten offensiv werden wollen. Die Ukraine bereitet ihre erste Großoffensive vor. Es geht um die Befreiung der Großstadt Cherson, die in den ersten Tagen des Krieges verloren ging. Derzeit sind die ukrainischen Streitkräfte bei der Vorbereitung der Operation – die Shaping Phase der Offensive.
Dazu versucht die Ukraine, Positionen zurückzuerobern, aus denen ein eigentlicher Angriff auf die Stadt erfolgen kann. Gleichzeitig greifen sie die russische Logistik an, um eine Verteidigung von Cherson zu erschweren. Ein zentraler Punkt in diesem Gebiet sind die breiten Flussläufe. Hier werden die Brücken gezielt mit den Präzisionsraketen der Himars-Werfer attackiert. Obwohl die Explosionswirkung der einzelnen Geschosse begrenzt ist, gelingt dies mit gutem Erfolg. Das Kalkül dahinter lautet, ohne echte Brücken wird es den Russen schwerfallen, eigene Truppen schnell zu verlagern und den Munitionsbedarf für ihre Art der Kriegsführung heranzuführen. Gleichzeitig erobert die Ukraine zahlreiche Dörfer und Städtchen am östlichen Ufer des Dnepr zurück und arbeiten sich so an Stadt und Fluss heran. Bislang sind das nur Vorbereitungen. Die eigentliche Offensive war für den August angekündigt, vor Kurzem wurde der September genannt.
Russland greift bei Bachmut an
Doch seit einigen Tagen haben die Kämpfe im Donbass wieder zugenommen. Ihr Zentrum hat sich in die Umgebung von Donezk verlagert. Dort konnten die Russen bislang kaum Geländegewinne erzielen. Nun greifen sie die wichtige Festungsstadt Soledar an, arbeiten sich durch den Vorort Pisky und versuchen so, die ukrainischen Kräfte in Bachmut ehemals Artemiwsk anzugreifen. Hier fanden in den letzten Tagen schwere Kämpfe statt, aber auch das ist eine Vorbereitungsphase für den eigentlichen Angriff. Bei ihm wird es darum gehen, die letzte Verteidigungslinie Kiews im Osten zu durchbrechen. Bachmut liegt quasi als Wellenbrecher vor der Städtelinie Slowjansk - Kramatorsk – Kostjantyniwka. Die Städte sind schwer befestigt und entsprechend schwer zu erobern.
Welche Gefahr droht?
Kiew läuft Gefahr, dass die Russen einen weiteren Erfolg im Donbass erreichen, bevor die eigene Offensive im September beginnt. Das wäre der Fall, wenn die Russen die Städtekette durchbrechen oder einzelne Städte durch einen Flankenangriff abschneiden können. So eine Entwicklung wäre im Donbass fatal, hätte aber auch Wirkungen in Cherson. Denn Kiews Kalkül baut darauf auf, dass das Gros der russischen Kräfte im Donbass gebunden ist und Moskau nicht genug Truppen haben wird, um Cherson gegen einen entschlossenen Angriff verteidigen zu können. Sollten die russischen Operationen im Donbass aber vor dem ukrainischen Startschuss zu einem Erfolg führen, können Kräfte von dort abgezogen werden und in den Süden verbracht werden. Erschöpft sich der russische Angriff jedoch, ohne dass Kiew weitere Städte aufgeben muss, hat die Offensive im Süden weit bessere Aussichten.
Eine Befreiung von Cherson wäre schon an sich ein bedeutender Erfolg für die Ukraine. Darüber hinaus würde Kiew von Cherson aus weiter Richtung Meer und Krim vorstoßen können. So etwas würde die gesamte russische Position zum Einsturz bringen. Darum ist die Vision einer Offensive dort so reizvoll. Aber es gibt auch Hindernisse. Im Donbass stoßen die Russen auf die schweren Befestigungen, die die ukrainische Armee angelegt hat. Umgekehrt haben die Russen begonnen, auch den Raum um Cherson herum mit Bunkern und Grabensystemen zu befestigen. Diese Anlagen werden die ukrainischen Streitkräfte vermutlich genauso mühsam und zeitraubend überwinden müssen, wie die Russen die ukrainischen Fortifikationen. Hinzu kommt die Besonderheit der breiten Flussläufe. Derzeit spielen sie Kiew in die Hand, weil sie so leicht den russischen Nachschub beeinträchtigen können. Um aber Cherson zu befreien, müssen diese Flüsse von den ukrainischen Streitkräften überquert werden, was die Russen versuchen werden zu verhindern.
Die Grenzen der Wunderwaffen
Kiew ist auf die Lieferung schwerer Waffen aus dem Westen angewiesen, weil das Land selbst die eigenen Verluste nicht mit neuen Produkten ausgleichen kann. Grundsätzlich benötigt Kiew alles an militärischer Ausrüstung. Angefangen bei Stiefeln, Schutzbrillen, Nachtsichtgeräten und Verbandspäckchen. Größte Aufmerksamkeit erlangen aber Waffensysteme, mit denen Kiew spektakuläre Erfolge erreichen kann. Das wären derzeit die Himars-Mehrfachraketenwerfer aus den USA. Mit ihnen kann die Ukraine Hauptquartiere und Munitionslager weit hinter der Front angreifen und vernichten. In Zonen, die sonst unerreichbar sind. Neben der bloßen Reichweite der Raketen kommt ihre enorme Zielgenauigkeit. Dieser Einsatz behindert die Russen enorm. Waren die es doch schon gewohnt, im Hinterland ganz unbehelligt zu agieren. Es ist ein Geheimnis, in welchem Maßstab es den Russen gelingt, diese Werfer auszuschalten. Nun kann man sich an der Formel "Qualität schlägt Quantität" aufrichten. Doch dabei wird eines vergessen: Die russischen Streitkräfte setzen auf die Masse ihrer Feuerwalze und verschießen dabei Unmengen von wenig präziser Munition. Doch haben sie durchaus auch Präzisionswaffen im Einsatz. Fast 3000 Marschflugkörper wurden bislang auf die Ukraine abgefeuert. Und auch wenn die Russen mittlerweile improvisieren müssen, etwa in dem Boden-Luft-Raketen gegen Bodenziele eingesetzt werden, können sie weiterhin jeden Tag Videos von zahlreichen Angriffen zeigen, bei denen Lenkwaffen ihre Ziele genau treffen. Mit der Fähigkeit, Lager im Hinterland anzugreifen, hat Kiew kein Alleinstellungsmerkmal, hier können die ukrainischen Streitkräfte die bislang drückende Überlegenheit der Russen im Bereich von Fernwaffen zumindest partiell ausgleichen. Das hilft, reicht aber sicher nicht aus, um eine komplette Wende zu bringen.