Ukraine Krieg Wladimir Putin – der angebliche Großstratege führt einen Krieg, nur um eigene Fehler zu verdecken

Zerstörte russische Panzer sind das Sinnbild der zerplatzen Großmachtsträume Moskaus.
Zerstörte russische Panzer sind das Sinnbild der zerplatzen Großmachtsträume Moskaus.
© Yaghobzadeh Alfred/ABACA/ / Picture Alliance
Russland soll wieder Weltmacht sein, sagt Wladimir Putin. Heute müssen Tausende russischer Soldaten für Großmachtträume sterben – weil er Fehler gemacht hat.

Wladimir Putin gilt – oder besser galt – als kühler Spieler im Machtpoker. Ein Mann, der eiskalt seine Figuren in einem langfristigen Schachspiel um die Macht bewegt. Die Politiker des Westens, von Stimmungen und Wahlen getrieben, schienen machtlos gegen den rücksichtslosen Strategen zu sein.

Der Krieg in der Ukraine hat Putin viel von diesem Nimbus genommen. Vor dem Einmarsch galt Russland als Supermacht – den Status "Weltmacht" hatte auch die UdSSR nie, dazu fehlte es stets an den Mitteln, tatsächlich weltweit Macht einsetzen zu können. Und warum Supermacht? Wegen des Militärs. Wirtschaftlich und technologisch konnte es Russland nie mit den USA, der EU oder China aufnehmen – selbst wenn man koinzidiert, dass Russland wirtschaftlich stärker sein mag, als es die reinen Daten des Bruttosozialprodukts vermuten lassen.

Ruf des Militärs zerstört

Doch vor Russlands Militär hatte die Welt Respekt. Vor allem im wehrunwilligen Westeuropa mit seinem zusammengesparten Militär fürchtete man, niemand könne eine russische Panzerwalze aufhalten, wenn sie sich denn gegen Westen in Marsch setzt. Diese widerwillige Bewunderung ist mit der desaströsen Performance der russischen Streitkräfte gewichen. Anstatt eines Handstreiches oder doch eines Sieges innerhalb weniger Wochen kämpft die russische Armee damit, zumindest partielle Niederlagen zu verhindern. Dieser Ansehensverlust ist allein Putins dilettantischer Kriegsplanung zuzuordnen.

Das ursprüngliche Kriegsziel, die ganze Ukraine und insbesondere die Hauptstadt Kiew einzunehmen und zu besetzen, ist in weite Ferne gerückt. Stattdessen soll nun die Entscheidung im Osten des Landes gesucht werden – im sogenannten Donbass. An dieser Region kann man erkennen, dass Putin alles andere als ein kühler Langzeitstratege ist, sondern ein Zauderer, der von Ereignissen getrieben wird und sie selbst keineswegs bestimmt.

Damit heiße ich Putins Angriffskrieg heute und seine Intervention 2014/2015 keineswegs gut. Gemessen an seinen eigenen Zielen (!) sind Putin eine Reihe von eklatanten und katastrophalen Fehlentscheidungen unterlaufen.

Putin gab Kiew 2014 auf

Hierzu muss man in die Jahre 2013, 2014 und 2015 zurückgehen, in die Zeit des Maidans, der Krim-Annektion und der Kämpfe im Osten der Ukraine. Damals geriet der Kremlverbündete Janukowitsch in Kiew innenpolitisch massiv unter Druck. Janukowitsch war demokratisch gewählt, aber noch korrupter als andere ukrainische Politiker und extrem unbeliebt. Insbesondere im Westen des Landes und in der Hauptstadt – seine eigene Wählerbasis lag im Osten. Dem Machtverfall seines Verbündeten sah Putin praktisch tatenlos zu. Im Gegenteil: Die russischen Sanktionen wegen einer aus Sicht des Kremls zu starken Zuneigung Kiews zur EU, spitzten den Konflikt um die Orientierung des Landes dramatisch zu. Ein Konflikt, den Janukowitsch verlieren musste, als er aus Moskau nur Druck aber kaum Hilfe bekam. Die Zurückhaltung des Kremls bei der Unterstützung von Janukowitsch mag daran gelegen haben, dass der Kremlherrscher den schwachen Janukowitsch insgeheim verachtete. Stellte sich im Nachhinein als eine groteske Fehleinschätzung heraus.

Im Jahr 2022 führt Putin nun einen ausgewachsenen Angriffskrieg, um die Ereignisse von 2014 rückgängig zu machen. Während er damals weder Geld, noch Militär oder auch nur PR-Berater zur Verfügung stellte. Das ganze Arsenal, das Lukaschenko half, die Macht in Minsk zu verteidigen, kam damals nicht zum Einsatz.

Dahingestellt muss bleiben, ob Putin den Gezeitenwechsel in Kiew hätte aufhalten können – aber einen Versuch wäre es aus seiner Sicht wert gewesen. Wenn Putin heute den Zorn der ganzen Welt und einen verlustreichen Krieg in Kauf nimmt, muss man fragen, warum seine Panzer nicht spätestens bei der Vertreibung bzw. Flucht von Janukowitsch aus Kiew in die Ukraine gerollt sind. Bevor die Maidanbewegung ihre Macht konsolidieren konnte, hätte Putin das Land praktisch ohne Widerstand besetzen können. Angesichts der geopolitischen Bedeutung, die der Kreml heute der Ukraine beimisst, ist die Begründung, Putin habe sein persönliches Prestigeprojekt, die Olympiade in Sotschi, nicht gefährden wollen, absurd.

Durch den Kriegsverlauf 2022 ist die Vision, die russische Fahne über den Maidan zu hissen, inzwischen unerreichbar. Nun geht es um ein begrenztes Kriegsziel, den Kampf um den Osten des Landes, den Donbass. Eine Region, die wegen der Geschichte ihrer Industrialisierung unter Stalin von großer Bedeutung für die post-sowjetische Seele ist. Hier schickt der Kreml seine Soldaten in blutige Schlachten und nimmt Tausende von Toten in Kauf. Um ein Gebiet zu besetzen, das Moskau im Jahr 2014 quasi umsonst hätte erobern können.

Putin tappste den Ereignissen hinterher

2014 dehnte die Maidanbewegung ihre Macht auch im Osten des Landes aus, dabei kam es zu Zusammenstößen und auch Kämpfen. Am Ende wurde 2015 um die Ortschaft Debalzewe ein echter Krieg geführt, beide Seiten setzen Truppen in Stärke mehrere Brigaden ein. Im Winter 2015 unterstützte Moskau die Separatisten massiv mit Material, Munition und ganzen Truppenteilen. Schon zu Beginn der Kämpfe im Donbass wurden die Separatisten unterstützt, aber nur sehr verhalten. Damals wie heute nimmt der ansonsten unbedeutende Ort Slowiansk eine Schlüsselstellung ein. Wenn Russland 2022 eine Donbass-Offensive beginnt, werden die Zangen aus dem Norden und Süden versuchen, sich in der Nähe von Slowiansk zu vereinen und so die ukrainische Donbass-Armee abzuschneiden. Ein Ort, den Putin 2014 aufgegeben hatte.

2014 war Slowiansk ein Schwerpunkt der prorussischen Separatisten. Wie kam es dazu? Ganz zu Beginn der Auseinandersetzung gab es lokalen Widerstand gegen den Machtwechsel in Kiew, vermutlich wäre es ein Leichtes gewesen, ihn zu brechen und den Ort einzunehmen. Bis der ehemalige russische Offizier Igor Girkin, auch bekannt als Strelkow, mit wenigen Anhängern auftauchte und eine energische und effiziente Verteidigung aufbaute. Schon damals wurde diese russische Einmischung vom Westen scharf kritisiert. Dabei spricht einiges dafür, dass Strelkow nicht vom Kreml geschickt wurde. Strelkows Deutung war, er habe eigenhändig Putin in den Donbasskrieg getrieben.

Strelkow – wie auch andere der damals führenden Separatisten – war alles andere als ein gehorsamer Soldat des Kremls. Später brach er mit Putin und kritisierte ihn scharf. Doch schon zur Zeit der Kämpfe um Slowiansk war es offensichtlich, dass dieser Selbstdarsteller und Exzentriker keineswegs auf Linie war. Strelkow verfasste seine Anordnung und Todesurteile im Stil der Stalinzeit, posierte mit altertümlichen Waffen und inszenierte einen theatralischen orthodoxen Ikonen-Kult um seine Kämpfer. Ausgerüstet waren sie mit alten Waffen der UdSSR-Zeit, vor allem verfügten sie kaum über Artillerie. Als es den untrainierten Kiewer Truppen nicht gelang, die Stadt zu stürmen, verlegten sie sich darauf, Strelkows Männer mit Artillerie von einer Anhöhe vor der Stadt aus zu beschießen. Als sie damit drohten, das Städtchen einzuschließen, gelang es Strelkows Kämpfern, sich Richtung Donezk abzusetzen. Slowiansk aber mussten sie aufgeben.

Minsk-Abkommen – auch dieses Kalkül ging nicht auf

Wozu dieser Rückblick? Nur mit einer Handvoll Panzer, Salvengeschützen und Artillerie hätte der strategisch wichtige Ort damals gehalten werden können. Damals schreckte Putin vor einem Engagement in Bataillonsstärke zurück. Aus seiner Sicht ein unverzeihlicher Fehler. Immer wieder verpasste der Kreml den "richtigen" Zeitpunkt mit dem Einsatz kleiner beziehungsweise sehr begrenzter Mittel, eine Wende im Sinne Moskaus herbeizuführen. Diese Fehlentscheidungen sollten später immer wieder korrigiert werden. Dazu musste Moskau den Einsatz massiv erhöhen und erreichte doch nie, was zuvor in greifbarer Nähe lag. Mit dem Einsatz von Tausenden von Soldaten bereiteten russische Truppen und Separatisten der ukrainischen Armee bei Debalzewe im Februar 2015 eine verheerende Niederlage – doch Slowiansk, Mariupol und den ganzen Donbass eroberten sie nicht. Putin schwenkte von Pfad des Militärs auf das Friedensabkommen von Minsk um. Sein Ziel war es, die Separatistengebiete formal in der Ukraine zu belassen und über sie Einfluss auf das Parlament in Kiew zu nehmen.

Dafür gab er das Ziel eines umfassenden militärischen Sieges im Donbass auf. Auch hier hat Putin sich verkalkuliert, Kiew hat die Vereinbarungen, wie zu erwarten, nicht umgesetzt. Die pro-russischen Kräfte konnte so nie Einfluss auf die Politik der Ukraine nehmen. Stattdessen hat der Dauerkonflikt im Osten den Wehrwillen der Ukrainer und eine umfassende Modernisierung des Militärs gefördert. Ob es damals nach der Schlacht Debalzewe tatsächlich so leicht möglich gewesen wäre, den Osten der Ukraine zu besetzen, wie es scheint, lässt sich kaum sagen. Aber auf jeden Fall hätte ein Bruchteil der heute eingesetzten russischen Truppen die schwer angeschlagenen Soldaten Kiews besiegen können.

Die Offensive heute soll diese "Fehler" Putins in den Jahren 2014 und 2015 wieder gut machen. Aus russischer Sicht formuliert: Hätte Putin damals konsequent gehandelt, müssten heute nicht Tausende von russischen Soldaten sterben. Eine große Strategie sieht anders aus.