Die Bilder aus Butscha wird die Welt nicht so schnell vergessen. Leichen auf und neben den Straßen, teilweise gefesselt, viele der Opfer, mutmaßlich einfache Bürger, regelrecht hingerichtet. Doch so bitter und herzlos es auch klingt: Leider ist noch nicht vollends klar, ob es sich bei den getöteten Menschen tatsächlich um unschuldige Zivilisten handelt. Im Krieg sind auch Bilder Waffen, und nicht einmal der offenkundigste Schrecken erzählt immer eine eindeutige Geschichte. Doch sehr viel, wenn nicht das Meiste spricht dafür, dass es tatsächlich russische Soldaten waren, die die Menschen in Butscha getötet haben – denn diese Art der Kriegsverbrechen ist nicht neu, die Liste an Vorwürfen gegen die Truppen Putins lang.
"Dieselben Taktiken wie in Syrien und Tschetschenien"
"Was in der Ukraine geschieht, ist eine Wiederholung dessen, was wir in Syrien gesehen haben", sagte Amnesty-Generalsekretärin Agnès Callamard jüngst. Allein die Hafenstadt Mariupol erinnert an das Schicksal von Aleppo: belagert und in Schutt und Asche gebombt. Amnesty-Osteuropa-Expertin Marie Struthers sagt: "Unsere Ermittler haben bei einem Ortsbesuch in der Ukraine "den Einsatz derselben Taktiken wie in Syrien und Tschetschenien" dokumentiert.
Angriffe auf Hospitäler, Schulen und Wohnhäuser, Entführung und Mord an Zivilisten, das Ausradieren ganzer Städte wie etwa Mariupol ist etwa aus Grosny bekannt, die Hauptstadt der Kaukasusrepublik Tschetschenien.
Zweimal tobte dort ein blutiger Krieg. Zwischen 1994 und 1996 kämpften die Tschetschenen um ihre Unabhängigkeit und setzten sich überraschend gegen eine schlecht organisierte russische Armee durch. Weil sie der Guerillataktik der Tschetschenen wenig entgegenzusetzen hatten, setzten Moskaus Truppen auf schiere Feuerkraft: Zwei Monate lange belagerten sie Grosny und malträtierten den Ort mit unablässigem Artilleriefeuer. 25.000 Menschen kamen durch die Dauerangriffe ums Leben, große Teile der Stadt wurden, offenbar mutwillig und durch ungezielten Beschuss zerstört.
In den beiden Kriegen kamen zwischen 150.000 und 200.000 Tschetscheninnen und Tschetschenen ums Leben. Viele durch Bomben und Raketenbeschuss, andere wurden von russischen Soldaten und Geheimdienstlern entführt, gefoltert und ermordet. Diese Art der verbrecherischen Kriegsführung wurde offenbar von ganz Oben befohlen.
Menschenverachtene Gewalteskalation
"Sechs Jahre nach dem offiziellen Ende sieht die Hauptstadt Grosny aus, als lägen die letzten Gefechte erst sechs Tage zurück. Wohngebiete gleichen Ruinenlandschaften, zerschossene Fensterscheiben sind mit Pappe geflickt, vor die Granatlöcher wurden Schränke geschoben", schrieb der stern 2006. Drei Jahre später war der zweite Tschetschenienkrieg offiziell vorbei, der Landstrich ist seitdem wieder Teil der Russischen Föderation. Mittlerweile ist die Stadt wieder aufgebaut, doch gilt ihre Zerstörung als Inbegriff einer menschenverachtenen Gewalteskalation.
Am 10. März, zwei Wochen nach Kriegsbeginn, haben russische Truppen in der belagerten Stadt Mariupol eine Geburts- und Kinderklinik zerstört. Es gab viele Tote und Verletzte. Der Beschuss des Hospitals war eine der ersten Gräueltaten der Ukraine-Invasion. Die Weltgesundheitsorganisation hat allein im ersten Kriegsmonat mehr als 60 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in der Ukraine gezählt. Darunter Attacken auf Kliniken, Arztpraxen, sowie Medikamente- und Materialtransporte.
Das Muster ist bereits aus dem Krieg in Syrien bekannt. Laut Amnesty International würden russische und syrische Truppen "vorsätzlich Krankenhäuser ins Visier nehmen", wie es in einer Untersuchung von Angriffen auf Schulen und Krankenhäuser heißt. In dem Bericht dokumentiert die Menschenrechtsorganisation 18 Angriffe zwischen Januar und Februar 2020 in Idlib, West-Aleppo und dem nordwestlichen Gouvernement Hama.
Bislang kein Giftgas-Einsatz
Im Frühjahr 2021 hatten russische Menschenrechtler erstmals die Folgen Syrieneinsatzes ihrer Soldaten dokumentiert. In dem Bericht mit dem Titel "Ein verheerendes Jahrzehnt" ist ebenfalls die Rede von gezielten Angriffen auf Hospitäler. Es war das erste Mal, dass die Bevölkerung ein detailliertes Bild des Kriegs in Syrien von russischen Organisationen erhalten haben. Allerdings kein angenehmes Bild. Auch im "verheerenden Jahrzehnt" wird von willkürlichen Verhaftungen, von Folter, von den wahllosen Angriffen auf Zivilisten durch die syrische und russische Luftwaffe. Vom Einsatz von Streumunition und Giftgas gegen die Zivilbevölkerung berichten.
Der Einsatz von Giftgas wurde in der Urkaine bislang nicht dokumentiert. Der von Streubomben dagegen schon. Dabei gibt es seit zwölf Jahren die "Streubombenkonvention", die den Einsatz dieser perfiden Waffen untersagt. Fast 110 Länder haben den Verzicht mittlerweile unterzeichnet, ausgenommen: USA, Russland und China. Wenn, wie nun Amnesty International dem Kreml vorwirft, eben diese Sprengsätze in Charkiw einzusetzen, dann mag die Menschenrechtsorganisation zu Recht von "Kriegsverbrechen" sprechen – doch vermutlich wird das die Moskauer Führung wenig beeindrucken. Denn für die Soldaten Moskaus ist der Einsatz eben kein Tabu.
Streubomben sind besonders üble Sprengkörper. Denn sie setzen weitere, hunderte kleinere Sprengsätze von der Größe einer Getränkedose frei, von denen viele nicht sofort explodieren. Die liegen oft noch lange nach ihrem Abwurf herum und verletzten oder töten als eine Art Minen Menschen. Amnesty International wirft den russischen Invasoren "unerbittliche, wahllose Angriffe" auch auf Zivilisten vor.
Auch Human Rights Watch recherchiert und protokolliert mutmaßliche russische Kriegsverbrechen. Der Chef der Organisation, Kenneth Roth, fasste das simple und immer wiederkehrende Muster russischer Kriegsführung in einem Interview so zusammen: "Grosny und Syrien haben gezeigt, dass das russische Militär bei echtem Widerstand seine Attacken beschleunigt. Nicht allein durch die Entsendung von mehr Truppen, sondern durch verstärkte Angriffe auf Zivilisten."
Quellen: "Human Rights Watch", "Neue Zürcher Zeitung", DPA, AFP, Amnesty International, "Zeit", Tagesschau, "Süddeutsche Zeitung", "Ärzteblatt"