
Als die ältere Frau die Bilder sieht, fällt sie aus allen Wolken. "Ich habe noch nie etwas davon gesehen." Die etwa 70-jährige Ukrainerin, deren Name mit Anna Iwanowna angegeben wird, kommt aus dem Dorf Velyka Danylivka unweit der umkämpften Stadt Charkiw im Nordosten der Ukraine. Sie ist eine einfach Bäuerin – und sie ist eine Ikone der russischen Kriegspropaganda. Jedenfalls war sie das. Auf Wandgemälden, Plakaten, Postkarten, Skulpturen und Autoaufklebern war sie zu sehen. Mit der roten Flagge der Sowjetunion in der Hand und stilisiert als "Mütterchen Russland", wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg bekannt ist. Für die aktuelle Kriegspropaganda des Kreml war sie "Oma Anna" oder "Oma Anja", anderen Berichten zufolge auch "Babuschka Z" – mit der Referenz auf das Z, das auf den russischen Militärfahrzeugen in der Ukraine prangt.
Dass Anna Iwanowna für eine kurze Zeit eine beliebte Figur der russischen Propaganda zur Rechtfertigung des Überfalls auf die Ukraine war, steht außer Zweifel. Den BBC-Reportern, die sie erst kürzlich mit den Zeugnissen ihrer "Karriere" als Propaganda-Figur konfrontierten, tat sie dagegen wohl eher einen Gefallen, als sie sich überrascht zeigte. Denn mindestens seit Mitte Mai erzählt die ukrainische Seniorin immer wieder Journalist:innen ihre wundersame Geschichte. Kaum anzunehmen, dass sie von dem Rummel, den sie von Belgorod an der Grenze zur Ukraine bis hin an die ferne Pazifikküste ausgelöst hat, so gar nichts mitbekommen hat. Eher sieht es danach aus, dass "Oma Anna" gerade eine zweite Karriere macht – diesmal als Medienfigur am Rande des Krieges.
"Oma Anna" und die ukrainischen Soldaten
Die ursprüngliche Geschichte ist im Wesentlichen unstrittig – sie ist durch ein Video belegt, das ukrainische Soldaten Anfang März drehten. Darin ist zu sehen, wie sich eine ältere Frau den Soldaten nähert und dabei eine Sowjetflagge schwenkt. Die Ukrainer hatten es offenbar für eine witzige Idee gehalten, sich wenige Tage nach Beginn der Invasion und unweit der Front bei Charkiw als Russen auszugeben. "Oma Anna", zu diesem Zeitpunkt noch eine unbekannte ältere Frau, wollte die vermeintlichen russischen Soldaten mit der alten Sowjetfahne und Putin-freundlichen Äußerungen besänftigen. Was hätten sie und ihr Mann auch sonst gegen schwer bewaffnete Soldaten ausrichten sollen? "Ich dachte, jetzt ist es aus, die erschießen mich", wird sie später in einem Gespräch mit Journalisten erzählen.
Sie bete für die Soldaten, "auch für Putin bete sie", ist die Frau im Video zu hören. Dann drückt ihr einer der Männer eine Tüte mit Lebensmitteln in die Hand, sagt spöttisch, das sei für Putin und gibt sich dann zu erkennen mit dem Ruf: "Ruhm der Ukraine!" Anna Iwanowna ist perplex. Doch als einer der Soldaten ihre Sowjetfahne nimmt, auf den Boden wirft und darauf herumtrampelt, fängt sie sich wieder. "Meine Eltern sind für diese Fahne gestorben", protestiert sie. Die Lebensmittel stellt sie zurück.
Verstörend, erschreckend und unendlich traurig: Bilder aus 100 Tagen Krieg in der Ukraine

Spezialoperation, um die Babuschka zu befreien
Es brauchte seine Zeit, etwa einen Monat, bis die eigentlich unbedeutende, kleine Begebenheit ihren Weg auf russische Internetseiten fand. Von dort geriet das Video in die Abendnachrichten des russischen Fernsehens. Zu diesem Zeitpunkt hatte die russische Propagandamaschinerie das ursprüngliche Missverständnis schon in pures Gold verwandelt. Nichts zu sehen von Witzeleien und einem Missverständnis, nur eine alte Ukrainerin, die – wie der russische Präsident selbst – der untergegangenen Sowjetunion nachtrauert und die Russen als Befreier ansieht. Und dies in aller Würde auch kundtut. Die Szene erfüllte so perfekt jenes Narrativ, mit dem Wladimir Putin seinen Feldzug in der Ukraine rechtfertigt.
Die Begeisterung für die Babuschka aus der Ukraine soll in Russland einige Blüten getrieben haben. Der Vizechef von Putins Präsidialverwaltung im komplett zerstörten Mariupol soll sie bei der Einweihung einer kleinen Statue sogar zum "Symbol für den Kampf gegen den Faschismus erklärt haben. Der Mann nannte sie während der Zeremonie "Babuschka Anja", ihren Nachnamen wisse man leider nicht. Aber man werde sie finden. Eine Duma-Abgeordnete schlug Berichten zufolge sogar vor, "Babuschka Anna mit einer eigenen Spezialoperation aus den Händen der Nazis zu befreien."
Der kleine Ljoscha ist der neue Held
Dazu ist es dann aber doch nicht gekommen. Anna Iwanowna soll vielmehr weiterhin in ihrem Häuschen unweit der Front bei Charkiw leben. Das wurde zwar durch ein Geschoss beschädigt, doch keineswegs völlig zerstört, wie in manchen Berichten schon zu lesen war. Auch mit der Verehrung ist es offensichtlich nicht mehr weit her. Es gibt stattdessen einen neuen Helden, einen viel jüngeren, einen kleinen Jungen namens Ljoscha aus der Gegend von Belgorod. Wie es heißt, wollte die Propaganda letztlich doch weg von dem allzu nostalgischen Sowjet-Mütterchen als Identifikationsfigur.
Ljoscha kommt da gerade recht. Jeden Tag bezieht der Kleine offenbar seinen "Posten" am Straßenrand und winkt den russischen Einheiten zu, die über die Grenze an die Front bei Charkiw oder im Donbass ziehen. Manche Soldaten winken zurück oder überreichen Geschenke. Auch in einem gepanzerten Wagen mit Z-Aufschrift durfte Ljoscha schon mal mitfahren. Gekleidet ist er dabei, wie in den sozialen Medien zu sehen, in eine Militäruniform und er salutiert den Soldaten. Die Kämpfer unterstütze er mit aller Kraft, sagt Ljoscha in einem Video. Und dass er davon träume, mal ein Soldat zu werden. Dafür wird er auf Twitter mal als "Zukunft unseres Russlands" gefeiert, als "patriotisch, mutig, freundlich" – verbunden mit einem Dank an Eltern und Schule für die Erziehung. Auch Ljoscha wurde übrigens schon verewigt – nicht auf einem Wandgemälde, aber auf einer Schokoladenpackung.
"Putin hat einen großen Fehler gemacht"
Und Babuschka Anna, was denkt sie nun über ihre kurze Zeit des Ruhms, von der sie angeblich so wenig mitbekommen hat? "Sie haben aus mir eine Verräterin gemacht", sagte sie in einem der vielen Interviews. Manchmal ließen die Menschen sie das spüren. Doch: "Wie kann ich den Tod meines Volkes unterstützen?", fragt Anna Iwanowna rhetorisch. "Wir leben in Angst und Schrecken." Allerdings spricht sie sich nur gegen den Krieg aus, nicht gegen eine Vereinigung der Ukraine mit Russland, und auch nicht gegen Wladimir Putin.
"Aber Putin hat einen großen Fehler gemacht", zitiert der "Spiegel" sie. "Er hätte sich im Fernsehen ans ukrainische Volk wenden und sagen müssen: 'Liebe Leute, ich will euch nicht bombardieren, ich will bloß, dass wir zusammenleben'." Und weiter: "'Russland kann nicht ruhig leben. Seid ihr bereit, mit Russland zusammenzukommen? Wenn nicht, dann habe ich keine Wahl, dann werde ich bombardieren.'" Das klingt schon eher nach "Babuschka Z".
Quellen: "Euromaidan-Press"; "Spiegel"; BBC; "Telegraph"; Youtube