Knapp ein Jahr nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat UN-Generalsekretär António Guterres vor einer Ausweitung des Konfliktes und dem Einsatz von Atomwaffen gewarnt. "Im vergangenen Jahr haben wir nicht nur Leid und Verwüstung wachsen sehen, es wird auch immer deutlicher, wie viel schlimmer alles noch werden könnte", sagte Guterres am Mittwoch zur Eröffnung einer Sondersitzung der UN-Vollversammlung zum Jahrestag.
UN-Chef Guterres kritisiert Drohungen mit Atomwaffen
"Der erste Jahrestag der russischen Invasion in der Ukraine stellt einen dunklen Meilenstein dar - für das ukrainische Volk und für die internationale Gemeinschaft", sagte Guterres am Mittwoch zum Auftakt der Sondersitzung der UN-Vollversammlung. "Diese Invasion ist ein Angriff auf unser kollektives Gewissen." Zugleich warnte der UN-Chef vor einer weiteren Eskalation des Konfliktes. Er verwies auf "indirekte Drohungen" des Einsatzes von Atomwaffen und "unverantwortliche" Militäraktionen im Umfeld von Atomkraftwerken. "Es ist höchste Zeit, sich vom Abgrund wegzubewegen."
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba warb seinerseits um Zustimmung für die geplante Resolution. "Ich appelliere an Sie: Dies ist ein entscheidender Moment, um Unterstützung, Einheit und Solidarität zu zeigen", sagte er vor der Vollversammlung. "Niemals in der Geschichte war die Trennlinie zwischen dem Guten und dem Bösen so klar: Ein Land will einfach nur überleben. Das andere will töten und zerstören."
Russlands Botschafter macht Westen Vorwürfe
Der russische UN-Botschafter Wassili Nebensia erhob seinerseits in der Debatte schwere Vorwürfe gegen den Westen. Dieser wolle Russland bezwingen und die "Weltherrschaft" erringen. "Sie sind bereit, die gesamte Welt in den Abgrund des Krieges zu stürzen", sagte Nebensia mit Blick auf den Westen und bezeichnete die Ukraine erneut als "neofaschistisch".
Wie sich die Fronten in der Ukraine seit Beginn des Krieges verschoben haben

Diese Vorwürfe wurden vom EU-Außenbeauftragten Josep Borrell scharf zurückgewiesen: "Hier geht es nicht um 'Der Westen gegen Russland'", sagte er. "Dieser illegale Krieg betrifft jeden: den Norden, den Süden, den Osten, den Westen."
UN-Resolution soll Frieden fordern
Ein Jahr nach Kriegsbeginn soll das größte UN-Gremium am Donnerstag eine Resolution mit der Forderung nach Frieden und dem Rückzug Moskaus beschließen. In der UN-Vollversammlung hat Russland - anders als im UN-Sicherheitsrat - kein Veto-Recht.
Es wird mit Dutzenden Reden hochrangiger Sprecherinnen und Sprecher gerechnet, darunter Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, ihr US-Amtskollege Antony Blinken und der britische Chefdiplomat James Cleverly. "Wir setzen alle unsere diplomatischen Bemühungen daran, dass die Welt ihre Stimme heute laut und deutlich erhebt, so dass sie endlich auch in Moskau gehört wird", erklärte Baerbock vor ihrer Reise nach New York. "Was die Weltgemeinschaft verlangt, könnte einfacher nicht sein: Stopp der russischen Angriffe, Schutz der Zivilbevölkerung, Achtung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine durch russischen Truppenabzug, Rechenschaft für die begangenen Verbrechen."

Die Versammlung hat seit Beginn des Ukraine-Kriegs eine Reihe von Resolutionen beschlossen, die aber nicht völkerrechtlich bindend sind. So stimmten im März vergangenen Jahres 141 der 193 UN-Mitgliedstaaten für eine Resolution, in der Russland zum "sofortigen" Abzug aus der Ukraine aufgefordert wurde. Im April beschloss die Vollversammlung mit einer deutlich knapperen Mehrheit von 93 Stimmen, Russlands Mitgliedschaft im UN-Menschenrechtsrat in Genf auszusetzen.