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Protokolle "Bitte nicht" – wie Baerbock, Habeck und Co. den Kriegsausbruch in der Ukraine erlebten

Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck
Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck
© John MacDougall / AFP
Der stern protokolliert die von Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende. Deutsche Politiker und Sicherheitsexperten erzählen, wie sie den Kriegsbeginn erlebten. Hier ein Auszug. Die gesamte Geschichte lesen Sie mit stern Plus.
Spitzenpolitiker aus der Ampelkoalition berichten erstmals sehr persönlich, wie sie die Tage vor und nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vor einem Jahr erlebt haben. "Man kommt nicht dazu, über die Dimension des Geschehens nachzudenken. Das Wichtigste ist zu funktionieren, nichts zu übersehen, egal wann", sagte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) dem stern. "Das Leben verändert sich völlig. Fast alle Termine im Kalender: gestrichen. Alles richtet sich am Krieg aus. Ich war vom ersten Tag an jeden Morgen in den Besprechungen und Schalten unseres Krisenstabes, monatelang, jeden Tag." Ihrem damals siebenjährigen Sohn habe sie erklärt, "was Krieg für die Menschen bedeutet, dass er dazu führt, dass es sehr vielen Menschen sehr schlecht geht und einige von ihnen zu uns nach Deutschland flüchten." 
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) schilderte dem stern, wie er am Vorabend der Invasion von dem drohenden Kriegsausbruch informiert wurde: "Am frühen Abend hatte ich im Ministerium Besuch aus der US-Botschaft. Ich bekam ein Dossier, aus dem hervorging: Heute Nacht wird es passieren. Die Blutkonserven werden aufgetaut, die Raketenwerfer beladen, die Fahrzeuge sind markiert, und die Truppen bewegen sich eindeutig auf die Grenze zu. Es war klar: Der Krieg steht bevor, er wird bittere Realität." 

Annalena Baerbock: "Bitte nicht"

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock kann sich noch genau an den Morgen des 24. Februar 2022 erinnern, als sie vom Überfall Russlands auf die Ukraine erfuhr. "Es dauerte einen Moment, bis ich das Vibrieren des Telefons als echt eingeordnet hatte. Um 4.51 Uhr wurden erste Explosionen in Kiew gemeldet. Um 4.59 Uhr war meine Büroleiterin am Telefon. Ich sagte: bitte nicht", erzählt Baerbock in einer Dokumentation des stern, in der zahlreiche deutsche Spitzenpolitiker und Sicherheitsexperten über den Kriegsbeginn aus ihrer persönlichen Sicht berichten. Dass der Krieg beginnen könne, sei immer klar gewesen, so Baerbock weiter. "Aber wenn es passiert, stockt einem trotzdem erstmal der Atem." Sie habe sich dann angezogen und sei ins Auswärtige Amt gefahren. 
Im Laufe des Tages folgten zahlreiche Telefonate und Konferenzen. Am Nachmittag hatte Baerbock dann erstmals Gelegenheit, mit ihrem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba zu telefonieren. "Wir hatten uns in den Wochen zuvor oft getroffen, noch öfter gesprochen. In solchen Momenten denkt man natürlich daran, dass auch er Kinder hat", erzählt Baerbock im stern. Einen Tag später war Kuleba auch dem Sondertreffen der EU-Außenminister in Brüssel per Video zugeschaltet. "Er bedankte sich, dass wir uns die Zeit nehmen", erinnert sich Baerbock. "Ich dachte nur, wie surreal. Wir sitzen hier warm und sicher in Brüssel, er in einem Keller in Kiew, der mit Sandsäcken gesichert ist. Und er sagte: Danke." Am schwersten sei ihr angesichts der Bedrohung, der Kuleba ausgesetzt war, die Verabschiedung am Ende des Gesprächs gefallen, erzählt Baerbock. "Was sagt man da? Tschüs? Auf Wiedersehen? Alles Gute? Plötzlich hat eine Verabschiedung eine ganz andere Bedeutung." 

Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt spricht von Checkliste

Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt sagte dem stern, auf Basis nachrichtendienstlicher Erkenntnisse habe es vor dem Angriff "so eine Art Checkliste für die Beobachtung und Analyse der russischen Aktivitäten" gegeben. "Welche Elemente braucht man wirklich, um eine Invasion starten zu können? Irgendwann war dann alles auf dieser Liste abgehakt, bis hin zu den viel zitierten Blutkonserven”, so der SPD-Politiker. "Die Frage war: Tut Putin es, oder tut er es nicht? Ist das nur Drohkulisse oder nicht?"  
Noch am Wochenende vor Kriegsbeginn sei auf der Münchner Sicherheitskonferenz die einhellige Meinung gewesen: Er tut es nicht. Viele Teilnehmer hätten gesagt, so Schmidt: "Ein Angriff ergibt doch keinen Sinn, Putin wird die Ukraine nicht einnehmen und besetzen können, dazu sind selbst 150 000 Soldaten nicht ausreichend. Selenskyj hat am Samstag noch in seiner Rede gesagt: Es wird keine Invasion geben." 

Lars Klingbeil: "Hätte nicht gedacht, dass Putin wirklich angreift"

Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil bekannte gegenüber dem stern: "Ich hätte nicht gedacht, dass Putin wirklich angreift. Ich habe immer geglaubt, das ist noch abwendbar. Umso härter war die Erkenntnis am 24. Februar." Klingbeil: "Ich bin morgens aufgewacht und hatte die Nachricht auf dem Handy: Kriegsausbruch. Ich bin ja geprägt von 9/11, als ich in New York gelebt habe, wo schnell klar war: Hier passiert gerade was sehr, sehr Großes, das wird unser Leben prägen. Das war an diesem Morgen auch so, das Bewusstsein: Das ist ein tektonischer Moment, das verschiebt alles, das ist auch nicht in zwei Wochen vorbei." 

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