Die Offensive in der irakischen Schiiten-Hochburg Nadschaf ist für die US-Regierung ein Drahtseilakt. Das räumten am Donnerstag auch republikanische Kreise um Präsident George W. Bush ein. "Das ist ein kritischer Moment", sagte etwa Senator Richard Lugar und fügte hinzu, dass es "leider, leider" keine andere Wahl mehr gegeben habe: "Andernfalls werden die Rebellen die Hoffnungen auf eine Zukunft für den Irak in Frieden und Wohlstand ruinieren."
Für Bush könnte der "Showdown" mit dem radikalen Schiiten-Prediger Muktada al Sadr zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen. Er steckt mitten im Wahlkampf, und es kam ihm gelegen, dass der Irak in den vergangenen Wochen zusehends aus den Schlagzeilen geriet. Damit konnte sich der Präsident ganz dem Thema Terrorismusbekämpfung widmen und damit jenem Bereich, der Umfragen zufolge weiterhin seine stärkste Domäne ist.
Alle warnen vor "katastrophalen Auswirkungen"
Jetzt ist der Irak wieder ein Thema für die Titelseiten. Religiöse und politische Führungspersönlichkeiten von der iranischen Hauptstadt Teheran bis zur kalifornischen Metropole Los Angeles warnen vor den "katastrophalen Auswirkungen" für das Ansehen der USA in der muslimischen Welt, die ein direkter Angriff auf die heiligen Schreine in Nadschaf hätte.
Bush ist sich der Risiken zweifellos durchaus bewusst, wie das lange Herauszögern der Offensive zeigt. Dass die schließlich nicht - wie allgemein erwartet - am Mittwoch sondern erst am Donnerstag begann, wurde in diplomatischen Kreisen als letzter Versuch gewertet, al Sadr durch Druck und militärische Drohung zur Mäßigung zu zwingen. Der Erklärung des US-Militärs, dass man einfach noch mehr Zeit für Vorbereitungen benötigt habe, wurde wenig Glauben geschenkt.
USA wollen mehrere Optionen präsentiert haben
Washingtoner Regierungskreise nutzten die Zwischenzeit auch zu wiederholten demonstrativen Erklärungen, dass die letzte Entscheidung über die Offensive beim irakischen Interimsregierungschef Ijad Allawi liege. Die USA hätten ihm "mehrere Optionen" präsentiert, "und nun werden wir sehen", wie es ein Beamter am Mittwochabend formuliert hatte.
Zugleich machte die Regierung klar, dass die Streitkräfte in Nadschaf äußerst vorsichtig vorgehen würden. "Wir haben die heiligen Schreine immer respektiert", sagte ein Beamter. Aber in den Augen vieler Muslime ist der Schaden schon entstanden. "Weltweit sind Schiiten über das, was in Nadschaf vor sich geht, schockiert und empört", sagte Imam Moustafa al Kazwini, ein prominenter Schiitenführer in Los Angeles.
Die Zeitung "USA Today" befand unterdessen, dass sich die USA praktisch in einer Lage befänden, in der sie nicht gewinnen könnten. Es stehe bei dieser Operation immens viel auf dem Spiel: Selbst wenn die Offensive militärisch erfolgreich werde, könne sie den Widerstand im Irak am Ende noch verstärken. Gingen die US-Streitkräfte massiv gegen al Sadr vor und töteten ihn, könne der radikale Geistliche als Märtyrer erscheinen und gewalttätige Reaktionen tausender Schiiten hervorrufen. Werde al Sadr nicht besiegt, erschienen die USA und Allawi schwach.
Dass die Lage prekär ist, meint auch der pensionierte US-General Daniel Christman. "Die Gefahr ist groß, dass wir die Menge der schiitischen Bevölkerung gegen uns aufbringen", sagt Christman. "Wir können jede taktische Schlacht gewinnen, aber den Krieg verlieren, wenn wir einzelne Operationen nicht in den richtigen großen politischen Zusammenhang stellen." Juan Cole von der Universität von Michigan erinnert gar an die islamische Revolution 1978 in Iran. "Das ist das schlimmste Szenario", zitiert "USA Today" den Irak-Experten. "Tausende von Schiiten auf den Straßen von Bagdad, Nasirija, Basra und in anderen Städten, und die Amerikaner müssten gehen."