Mit dem Vorwurf des Völkermordes hat US-Präsident Joe Biden die Debatte über die Einstufung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine neu entfacht. Er beschuldigte Russlands Präsidenten Wladimir Putin am Dienstag zum ersten Mal eines Genozids: "Es wird immer klarer, dass Putin versucht, die bloße Vorstellung auszulöschen, ein Ukrainer sein zu können." Die Äußerungen stießen auf ein geteiltes Echo, denn es ist umstritten, wann Gräueltaten als Völkermord eingestuft werden können.
Die bisherige Haltung der US-Regierung
Die US-Regierung hatte bislang mit Blick auf die Ukraine nicht von einem Völkermord gesprochen. Biden selbst sagte Anfang vergangener Woche auf die Frage, ob nach den Gräueltaten an Zivilisten im Kiewer Vorort Butscha von einem Genozid gesprochen werden könne: "Nein, ich denke, es ist ein Kriegsverbrechen."
Sein Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan führte kurz darauf aus: "Wir haben Gräueltaten gesehen, wir haben Kriegsverbrechen gesehen. Wir haben noch nicht ein Ausmaß an systematischer Beraubung von Leben des ukrainischen Volkes gesehen, das das Ausmaß eines Genozids erreicht." Diese Einschätzung könne sich aber jederzeit ändern. Das US-Außenministerium reagierte nach Bidens Äußerungen zunächst nicht auf eine Anfrage, ob die USA Russland jetzt offiziell einen Völkermord vorwerfen.
Die Definition von Völkermord
Der Begriff ist in juristischer Hinsicht verhältnismäßig neu. Als Folge des Holocausts verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen (UN) im Dezember 1948 das "Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes". Mit der im Januar 1951 in Kraft getretenen Konvention wurde Genozid zum völkerrechtlichen Straftatbestand.
Wie eng der Begriff des Völkermordes zu definieren ist, darüber streiten Juristen seit seiner Einführung in das Völkerstrafrecht. Gemäß Artikel 2 der UN-Konvention handelt es sich um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, "begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören".
Dabei geht es nicht nur um die "Tötung von Mitgliedern der Gruppe", sondern auch um die "Zufügung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe", die Verhinderung von Geburten innerhalb einer Gruppe, die Verschleppung von deren Kindern in eine andere Gruppe und die vorsätzliche Verschlechterung von Lebensbedingungen. Auch wenn der Begriff Völkermord an das millionenfache Morden des Nazi-Regimes erinnert, spielt die Zahl der Opfer gemäß der Konvention keine Rolle.
Mit der Ratifizierung haben sich die UN-Mitglieder verpflichtet, Verbrechen dieser Art zu verhüten und zu bestrafen. Dennoch konnten weitere Völkermorde nicht verhindert werden – etwa die von Hutu-Milizen an Hunderttausenden Tutsi begangenen Verbrechen in Ruanda (April 1994) oder in Europa das von Serben an bosnischen Muslimen verübte Massaker in Srebrenica (Juli 1995). Zuletzt hatten die USA im März 2022 die Gräueltaten an der muslimischen Minderheit der Rohingya in Myanmar formell als Völkermord eingestuft.
Politische Debatten über die Einstufung von Genoziden
Die Einstufung von Gräueltaten als Völkermord ist nicht nur eine juristische, sondern auch eine politische Frage – und der Begriff ist emotional äußerst aufgeladen. So wird seit Langem darüber gestritten, ob die Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges als Völkermord eingestuft werden können. Der Bundestag tat dies im Jahr 2016, was eine schwere diplomatische Krise mit der Türkei auslöste. Die USA folgten erst im vergangenen Jahr mit einer Erklärung von Präsident Biden.
Unter Bidens Vorgänger Donald Trump hatte die US-Regierung wiederum Anfang 2021 China offiziell einen Völkermord an der muslimischen Minderheit der Uiguren vorgeworfen. Kritiker monierten, diese Einstufung wenige Tage vor dem Ende von Trumps Amtszeit sei vor allem politisch motiviert – unter Trump hatten sich die Beziehungen zwischen Washington und Peking deutlich verschlechtert. Zuletzt stuften die USA im März die vom Militär in Myanmar gegen die Rohingya-Minderheit verübte Gewalt offiziell als Völkermord ein.
Der russische Angriffskrieg und die Frage des Genozids
Die genaue Einordnung des russischen Vorgehens gegen die Ukraine ist schwierig. "Die Brutalität von Tötungen an sich ist nicht ausreichend für die Feststellung eines Völkermordes", sagt der Politikwissenschaftler David Simon von der US-Universität Yale der Nachrichtenagentur AFP. Zentral sei vielmehr die "Absicht", eine bestimmte Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Dies im russischen Krieg gegen die Ukraine festzustellen sei "kompliziert".
"Die Rhetorik aus Moskau macht kein Geheimnis daraus, dass die Existenz und damit das Existenzrecht der ukrainischen Nationalität geleugnet wird", sagt Simon. "Aber bestreiten sie auch das Existenzrecht der Ukrainer als Volk oder nur ihr Recht, sich als Ukrainer zu begreifen?" Letzteres wäre nicht von der Völkerrechtskonvention abgedeckt, so der Genozid-Experte.
Zugleich verweisen Simon und andere Experten auf die pauschale Bezeichnung von Ukrainern als Nazis oder Neonazis durch russische Medien und Putins Ankündigung, er wolle die Ukraine "entnazifizieren". Dies könnte die rhetorische Grundlage für einen Völkermord bilden.
Reaktionen auf Bidens Völkermord-Äußerungen
Während der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj umgehend Bidens "wahre Worte" begrüßte, wies der Kreml die Äußerung als "inakzeptabel" zurück. Auch in westlichen Staaten stieß die Aussage des US-Präsidenten auf ein geteiltes Echo. So warnte Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, eine "Eskalation der Worte" sei nicht unbedingt zielführend. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wollte sich Bidens Einschätzung nicht direkt anschließen und sprach von "Kriegsverbrechen".
Kanadas Regierungschef Justin Trudeau stellte sich dagegen hinter Biden: Mit Blick auf Russlands Angriff gegen die Ukraine von Völkermord zu sprechen sei "absolut richtig".