Als Muharrem İnce am Donnerstag, drei Tage vor der Wahl, überraschend doch noch seinen Rückzug als Präsidentschaftskandidat bekanntgab, wollte er seinen Schritt ausdrücklich als "patriotische Tat" verstanden wissen. "Ich tue das für mein Land", sagte er und meinte damit: Ich will Recep Tayyip Erdoğans Wiederwahl verhindern. Eine echte Chance hätte der Sozialdemokrat ohnehin nicht gehabt, und bevor er dem Anti-Erdoğan-Bündnis entscheidende Stimmen nimmt, verzichtete İnce lieber ganz. Trotz des Verzichts reichte es, anders als von vielen erhofft, nicht für einen Sieg des Oppositionsbündnisses über den Dauerpräsidenten.
Sinan Oğan, der Mann mit den Prozenten
In zwei Wochen entscheidet also eine Stichwahl darüber, ob Erdoğan Präsident bleibt oder von Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu abgelöst wird. Womöglich ist es ein weiterer Verzicht, der die entscheidenden Stimmen freimachen wird. Davon aber dürfte nicht das Sechs-Parteien-Bündnis profitieren, sondern der amtierende Staatschef. Denn Sinan Oğan, der dritte Mann im Bund der Kandidaten, verfügt über rund fünf Prozent der Wählerstimmen. Das entspricht ungefähr dem, was Kılıçdaroğlu zum Sieg oder Erdoğan zum Triumph fehlt.
Nach Stand der Dinge hängt der Wahlausgang Ende Mai jetzt davon ab, wie sich der 55-jährige Kandidat der ultranationalistischen Ata-Allianz entscheidet.
"Auch wenn dieser Begriff in den kommenden 14 Tagen sehr inflationär gebraucht werden dürfte: Oğan ist jetzt der Königsmacher", sagte Erkan Arikan, Chef der türkischen Redaktion der Deutschen Welle im Interview mit der "Tagesschau". Er wolle jetzt das weitere Vorgehen mit seinen Anhängern ausloten, so der Noch-Kandidat, der durchaus gefallen daran findet, das Zünglein an der Waage zu sein: "Unser Volk kann beruhigt sein. Wir werden niemals zulassen, dass die Türkei in eine Krise gerät", sagte er noch in der Wahlnacht.
Für wen wird sich Oğan entscheiden?
Bereits vor der Abstimmung wurde er gefragt, wen er im Fall einer Stichwahl eher unterstützen würde: das Kılıçdaroğlu-Bündnis oder Recep Tayyip Erdoğan. Seine Antwort fiel zwar eher unscharf aus, aber konkret genug, um zumindest erahnen zu können, dass seine Wahl auf den amtierenden Staatspräsidenten fallen wird: "Wir werden uns die nationale Haltung und Kompetenz ansehen. Wir werden uns ansehen, wie sie zum Terrorismus stehen und was sie dagegen zu tun gedenken. Wir werden mit gesundem Menschenverstand entscheiden", sagte Oğan.
Terrorismus ist vor allem in konservativen und rechten Kreisen der Türkei das übergroße Thema. Im Wesentlichen ist damit die bewaffnete Auseinandersetzung mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK gemeint, sie gilt auch außerhalb des Landes in vielen Staaten als Terrororganisation. Manchen Türkinnen und Türken gilt schon die bloße Nähe zu Kurden als verdächtig. So hat Erdoğan im Wahlkampf ungeniert seinen Kontrahenten in die Nähe der PKK gerückt, weil Kılıçdaroğlu fordert, die Kurden nicht länger zu stigmatisieren und generell in die Nähe von Terrorismus zu rücken. Angesichts solcher Töne dürfte der Nationalist Oğan seinen Wählern eher davon abraten, ihr Kreuz beim Herausforderer zu machen.
Konflikt mit den eigenen Leuten
Allerdings ist Sinan Oğan auch niemand, der den Konflikt scheut, auch nicht mit seinen eigenen Leuten. 2011 wurde er in seiner Heimatstadt Iğdır als Abgeordneter für die rechtsnationalistische MHP gewählt. Ein paar Jahre später näherte sich Parteichef Devlet Bahçeli Präsident Erdoğan an – sehr zum Missfallen von Oğan und einigen anderen MHP-Politikern. Daraufhin kam es zum Bruch. Erst nachdem die Partei 2017 für den hoch umstrittenen Wechsel vom Parlamentarischen zum Präsidialsystem votierte, vom dem Erdoğan profitierte, verließ Oğan die MHP. Sie koaliert derweil mit Erdoğans AKP, er ist seitdem parteilos.

Noch ist unklar, ob der dritte Kandidat eine Wahlempfehlung aussprechen wird, zu welchen Gunsten sie ausfällt und ob sich seine Wählerinnen und Wähler daran halten werden und falls ja, wie viele. Erdoğan, der bereits 49,51 Prozent erhalten hat, würde es schon reichen, wenn er ein Drittel der Ata-Allianz-Wähler auf seine Seite ziehen könnte. Kılıçdaroğlu dagegen liegt fünf Prozentpunkte dahinter. Cem Özdemir, türkischstämmiger Grünenpolitiker, sieht Sinan Oğan nun ebenfalls als Königsmacher. "Auch das zeigt, wie sehr die Türkei nach rechts gerückt ist", sagte er als Reaktion auf die Wahl in der Türkei.
Quellen: DPA, AFP, TRT, Deutschlandfunk, "Tagesschau"