Taktik des Kremls Eine Posse für zwei Wladimirs: Was Putin mit seiner plötzlichen Feuerpause will

Wladimir Putin bei einem Gottesdienst zu Ostern
Wladimir Putin bei einem Gottesdienst. Einst schor der KGB-Mann der Religion ab, heute pflegt er gerne das Image eines orthodoxen Mannes.
© Sergei Guneyev/POOL/TASS PUBLICATION / Imago Images
36 Stunden lang sollen an der Front die Waffen schweigen. So der Wunsch von Wladimir Putin pünktlich zum orthodoxen Weihnachten. Doch hinter der zur Schau getragenen Frömmigkeit steckt pures Kalkül. Der Kreml will gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. 

Der eine Wladimir sagt es, der andere macht es. So lässt sich das Schauspiel zusammenfassen, das Patriarch Kirill (mit bürgerlichem Namen Wladimir Gundjajew) und Wladimir Putin auf die Bühne brachten. Erst rief das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche dazu auf, am orthodoxen Weihnachtsfest die Waffen in der Ukraine schweigen zu lassen. Und kurze Zeit später erteilte der Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte den Befehl, das Feuer einzustellen. 

"Unter Berücksichtigung des Aufrufs von Patriarch Kirill beauftrage ich das russische Verteidigungsministerium, vom 6. Januar 12 Uhr bis 7. Januar 24 Uhr eine Feuerpause entlang der gesamten Linie der bewaffneten Auseinandersetzung in der Ukraine in Kraft zu setzen", heißt es wörtlich in Putins Befehl. "Angesichts der Tatsache, dass eine große Anzahl von Bürgern, die sich zur Orthodoxie bekennen, in den Kampfgebieten lebt, fordern wir die ukrainische Seite auf, einen Waffenstillstand zu erklären und ihnen die Möglichkeit zu geben, an Heiligabend sowie am Tag der Geburt Christi an Gottesdiensten teilzunehmen."

Putin, der Beschützer des Glaubens und der traditionellen orthodoxen Werte – eine der Masken, die der Kreml-Chef gerne aufsetzt. Es sind jedoch die Worte eines Mannes, der in der Silvesternacht die Ukraine mit einem Raketenhagel eindecken ließ – am wichtigsten Feiertag sowohl in der Ukraine als auch in Russland. Es ist der 31. Dezember, an dem sich Familien am Festtagstisch versammeln und Geschenke unter dem Tannenbaum austauschen. Weihnachten wird hingegen im Stillen zelebriert, von der Minderheit, die den orthodoxen Glauben tatsächlich nach allen Kanonen folgen. 

Aber der Anstrich des Heiligen lässt sich eben leichter mit Hilfe von Jesus Christus verleihen als Feuerwerk und Konfetti. Und so entschloss man sich im Kreml gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. 

Fliege Nummer 1 

Die erste Fliege ist die militärische. "Die Idee der russischen Führung, durch die seit Oktober andauernden massiven Raketenangriffe eine humanitäre Krise in der Ukraine zu provozieren, ist gescheitert", erklärt der Militärexperte Mykhailo Samus die Logik des Kremls hinter der Entscheidung zur Feuerpause. "Es liegt auf der Hand, dass dies auch nicht funktionieren wird: Es war nicht möglich, eine Energiekrise in Europa herbeizuführen. Es war nicht möglich, das politische System sowohl in der Ukraine als auch in Europa in diesem Zusammenhang zu destabilisieren."

Also sei man zur Planung des nächsten Schrittes übergegangen, den man vielleicht Ende Februar zu tun gedenke. "Aber dafür ist eine Pause notwendig", so der Experte vom Forschungszentrum Center for Army, Conversion and Disarmament Studies (CACDS) in Kiew. 

"Russland sind für den Moment die Reserven und Ressourcen ausgegangen. Es gab zwar eine Mobilisierungswelle, aber die hat sich in den Kämpfen von September bis heute in Rauch aufgelöst. All diese Mobilisierten sind verschwunden, genauso wie die Häftlinge von Prigoschin und viele andere Rekruten, die halb freiwillig halb erzwungen eingezogen worden sind." Nun brauche Moskau mindestens zwei Monate, um neue Mobilisierte zu rekrutieren und sie wenigstens wie Soldaten aussehen zu lassen. "Momentan ist jede Pause wertvoll", erklärt Samus im Gespräch mit "Radio Swoboda". 

Eine Pause für Russland 

Diese Pausen würden an der Front "Herzrhythmusstörungen" verursachen, so der Experte, der selbst zwölf Jahre lang in den ukrainischen Streitkräften gedient hat. Die Taktik ist die der Willkür. "Wenn sie wollen, starten sie an den Neujahrsfeiertagen Raketenangriffe, ohne den Menschen Ruhe zu gönnen. Nun wollen sie eben einen Waffenstillstand. Danach werden sie wieder Schläge verüben wollen. Die Initiative zumindest auf diese Weise zu ergreifen, gehört natürlich zu den Zielen des Kremls. Denn auf dem Schlachtfeld lag die Initiative bisher bei den Streitkräfte der Ukraine."

Selbst eine Pause von einem oder zwei Tagen würde den russischen Streitkräften Zeit verschaffen, sich zu formieren, ihre Positionen zu verbessern und schließlich erneut zu versuchen, die ukrainischen Kräfte in langwierige blutige Kämpfe hineinzuziehen, wie diejenigen, die gerade bei Bachmut oder an anderen Orten im Donbass stattfinden. In dieser Zeit könnte Russland neue Reserven mobilisieren. "Vielleicht sogar eine Einheit in Belarus schaffen, um es von dort aus zu probieren", spekuliert Samus.

"Auf jeden Fall hat die russische Armee derzeit konkrete große Probleme. Die ukrainische Armee bereitet sich auf eine Offensive vor. Die russische Armee darf es nicht zulassen, dass diese Offensive vor Ende des Februars beginnt." Daher werde man in naher Zukunft häufig Versuche sehen, die Kampfhandlungen zu unterbrechen, und Vorschläge zu Verhandlungen hören.  

Fliege Nummer 2

Für den Militärbeobachter David Scharp sieht in der angekündigten Feuerpause gar nicht den militärischen Zweck im Vordergrund, sondern den propagandistischen. "Meiner Meinung nach ist dies eine Medienaktion politischer Natur, keine militärische. Ein Tag Ruhepause würde im Großen und Ganzen nichts ernsthaft ändern."

Scharp vermutet, dass die russische Führung den Befehl zur Feuerpause bis zum Schluss in Kraft lässt und verkünden wird, das Feuer zu dieser oder jener festgesetzten Stunde eingestellt zu haben. Nur um dann die Ukraine als den Aggressor zu verunglimpfen, weil die sich nicht an die im Alleingang verkündete Feuerpause gehalten habe. "Es ist eine Aktion, um die Ukraine als dialogunwillig hinzustellen. Und sie richtet sich vor allem an das russische Publikum." 

Wladimir Putin sorgt für Propaganda-Stoff

Unabhängig also davon, ob eine Pause an der Front einen militärischen Zweck erfüllen würde, liefert der Schritt des Kremls propagandistisches Kanonenfutter. Wenn die Hetzer Solowjow, Skabejewa, Simonjan und Konsorten aus den zehntägigen russischen Silvesterferien auf die TV-Bildschirme zurückkehren, werden sie sich mit Vergnügen auf die Vorlage aus dem Kreml stürzen.

In den vergangenen Wochen bleib den Propagandisten in Ermangelung jeglicher Erfolge der russischen Führung oft nichts anderes übrig, als Hellseher und Wahrsager Russland große Zukunft prophezeien zu lassen. (Mehr dazu lesen Sie hier.) Eine Ukraine, die nicht einmal an Weihnachten die Waffen ruhen lässt, und ein Putin, der die Fahne der orthodoxen Rechtschaffenheit vor sich herträgt, liefern da bei weitem eindrücklicheren Stoff. 

Dmitri Medwedew gibt den Ton vor 

Den Anfang der Propagandaschlacht machte kein anderer als Dmitri Medwedew. Der ehemalige russische Präsident, der für Putin vier Jahre lang den Sitz warmhalten durfte, schrieb auf Telegram: "Am Großen Feiertag wurde den Ukrainern die Hand der christlichen Barmherzigkeit gereicht. Ihre Führer lehnten es ab. (...) Es ist schade für Menschen, die die Möglichkeit verloren haben, in die Kirche zu gehen. Aber Schweine haben keinen Glauben oder ein angeborenes Gefühl der Dankbarkeit. Sie verstehen nur rohe Gewalt und verlangen fordern von ihren Herren quiekend Futter. Das ist das Prinzip der Dressur. Und sie wird von den westlichen Schweinehirten fortgesetzt."

Zu den "westlichen Schweinehirten" gehört für Medwedew auch Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock: "Selbst das ungebildete Weib Baerbock und eine Reihe weiterer Aufseher im europäischen Schweinestall haben es geschafft, über die Unzulässigkeit einer Waffenruhe zu meckern. Nun, die Erben der Nazis haben noch nie weder Mensch noch Tier geschont."

Nun darf man gespannt sein, was die Meister der Propaganda aus diesem Stoff, den der Kreml ihnen vor die Füße legt, machen.