"Heute denken Sie darüber nach, wie Sie die festliche Tafel dekorieren werden und schmieden Ihre Pläne. Aber während die Uhr 12 schlägt, hören Sie möglicherweise nicht das Klopfen an der Tür. Es wird der Militärkommissar sein, der anklopft." Mit diesen Worten wandte sich der ukrainische Verteidigungsminister, Oleksij Resnikow, am Silvesterabend an die russische Bevölkerung.
"Anfang Januar werden die russischen Behörden für Männer die Grenzen schließen, dann das Kriegsrecht verhängen und eine weitere Mobilisierungswelle starten. Auch die Grenzen zu Belarus werden geschlossen", warnte Resnikow. Er wisse mit Gewissheit, dass bis dahin keine Woche Zeit bleibe.
Daran, dass der Kreml eine neue Welle der Mobilisierung starten wird, besteht so gut wie kein Zweifel. Die Frage ist nur wann und wie. "Die Mobilisierung wird es geben. Sie wird nur nicht offiziell verkündet werden", sagt der russische Politologe Dmitri Oreschkin. "Das ist eine offensichtliche Entwicklung. Es fehlt an lebendigem Personal. Wir alle sehen, wie schnell und sinnlos die Mobilisierten sterben. Diese Verluste müssen ausgeglichen werden", erklärt der Experte, der seit Jahrzehnten die Entwicklung des Putin-Regimes beobachtet.
Eine offizielle Verkündung einer zweiten Mobilisierungswelle sei jedoch nicht in Putins Interesse. "Und sie auch nicht notwendig. Er kann sie im Stillen laufen lassen." Dadurch werde das Risiko von Protesten minimiert.
Dekret von Wladimir Putin weiter in Kraft
Tatsächlich wurde zwar die Mobilisierung vom russischen Verteidigungsministerium großspurig für beendet erklärt. Ein entsprechender Befehl wurde aber von Putin nie unterzeichnet. De facto ist sein Befehl vom 21. September vergangenen Jahres weiterhin in Kraft. Im öffentlich gemachten Teil des Erlasses wird dabei keine konkrete Zahl genannt. In der geheimen siebten Klausel, die nur für den dienstlichen Gebrauch gedacht ist, soll jedoch die Mobilisierung von einer Million Soldaten vorgesehen sein.
Es bedarf also keines weiteren Erlasses, um die Mobilisierung fortzusetzen. Für Putin, der stets darauf achtet, seinen Entscheidungen einen Anstrich der Legitimität zu verleihen, ein entscheidender Punkt.
Zudem ist auch die reguläre herbstliche Einberufung zum Wehrdienst nun beendet. Die Militärkommissariate hätten wieder Kapazitäten, erneut verstärkt die Mobilmachung durchzuführen.
Zudem kündigte Verteidigungsminister Sergej Schoigu am 21. Dezember die Notwendigkeit an, die Größe der Armee von 1,15 auf 1,5 Millionen Menschen zu erhöhen. Insbesondere die Zahl der Vertragssoldaten soll steigen: Waren es 2021 nur 380.000, sollen es bis Ende des nächsten Jahres mindestens 521.000 werden.
Doch die Zahl der Freiwilligen, die sich zum Militärdienst verpflichten wollen, ist äußerst gering. Selbst Putin gab die Zahl derjenigen, die sich im Zuge der angeblich beendeten Mobilisierung freiwillig gemeldet haben mit 20.000 an. 20.000 aus 320.000 – eine größere Zahl zu nennen, traute sich selbst der Kreml-Chef nicht.
Tatsächlich registrieren die militärischen Garnisonsgerichte in den vergangenen Monaten eine zunehmende Anzahl von Klagen seitens Vertragssoldaten, die aus verschiedenen Gründen ihre Entlassung forderten – von persönlichen Umständen bis hin zu mangelnder Bereitschaft, sich am Krieg mit der Ukraine zu beteiligen. Doch seit Ende September verweigern die Gerichte die Entlassungen massenhaft und verweisen auf die Bestimmungen des Mobilisierungsdekrets von Präsident Wladimir Putin. Der fünfte Artikel dieses Dekrets sieht nur drei Gründe für die Entlassung aktiver Soldaten aus der Armee vor: Erreichen der Altersgrenze, schlechter Gesundheitszustand und Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe.
Russland will Armee vergrößern und braucht neue Soldaten
Dass Schoigu nun also die Armee mit Vertragssoldaten aufstocken kann, ist äußerst unwahrscheinlich. Eine neue Welle der Mobilisierung wäre die Lösung. Das glaubt auch der Leiter der Rechtsschutzorganisation "Bürger. Armee. Recht": "Die Angriffspläne des Verteidigungsministeriums in der Ukraine wurden im Militärrat erläutert. Die Mobilisierten werden genau darauf vorbereitet. Aber bis zum Sommer wird Nachschub benötigt werden, das Verteidigungsministerium braucht neue Soldaten. Um sie vorzubereiten, braucht es drei bis vier Monate. Eine neue Mobilisierungswelle könnte demnach in etwa einem Monat angekündigt werden – also im Januar", sagte Sergej Kriwenko Ende Dezember gegenüber BBC News.
Dass der Kreml keineswegs gedenkt, die Mobilisierung zu beenden, zeigt auch die russische Gesetzgebung. Im Dezember wurde die Weigerung, einem Einberufungsbescheid Folge zu leisten, unter das Strafrecht gestellt. Wer nicht im Militärkommissariat erscheint, nachdem er einen Einberufungsbescheid erhalten hat, macht sich nun strafbar.
Propaganda bewirbt das Sterben
Das sicherste Indiz für eine anstehende Mobilisierung liefert jedoch wie so oft im Fall anstehender Entscheidungen im Kreml die Propaganda. Seit Wochen versuchen die Propagandisten den Russen das Stareben schmackhaft zu machen. So erklärte Wladimir Solowjew, einer der bekanntesten TV-Propagandisten, in seiner allabendlichen Sendung: "Das Leben wird überbewertet. Warum Angst vor dem Unvermeidlichen haben? Zudem wo wir doch in den Himmel kommen!", zitierte er wieder einmal seinen geliebten Spruch Putins, wonach Russen "in den Himmel kommen. Und alle anderen einfach verrecken."
"Der Tod ist das Ende eines irdischen Weges und der Anfang eines anderen. Wozu also Angst davor haben? Geschweige denn, seine Entscheidungen davon abhängig machen", führte Solowjew weiter aus. "Wie die Klassiker sagen: Es lohnt sich nur für etwas zu leben, wofür man auch sterben kann."
Mit dieser Philosophie ist Solowjew bei weitem nicht allein. Auch die orthodoxe Kirche verherrlicht ungehemmt das Sterben. Ein orthodoxer Priester erlangte erst kürzlich mit einer Predigt eine denkwürdigen Berühmtheit. "Der Tod eines Kriegers ist der beste Tod überhaupt", erklärte er von der Kanzel herunter. "Menschen sterben wie die Schweine in ihrer eigenen Kotze. Sie trinken, fressen, fallen unter die Tische und ertrinken in ihrer Kotze. Was für ein Tod! (...) Dann ist es doch besser, mit einer Waffe in den Händen für die Heimat zu sterben – wie ein Held, wie ein Mann. Am besten vorher noch ein Gebet sprechen. Ein 'Herr, erbarme dich meiner' und ab geht es in den Himmel." (Wie den Russen das Sterben schmackhaft gemacht werden soll, lesen Sie hier.)
Neuer Maulkorb für Staatsmedien
Vielsagender als diese Lobpreisungen des heldenhaften Tods im Kampf "für Gott und Vaterland" ist jedoch das, worüber die Propaganda schweigt. Und das ist die Mobilisierung. Russischen Medien wurde es offenbar verboten, Informationen über die Mobilisierung zu verbreiten, selbst wenn die Quelle hierfür die Staatsduma oder der Föderationsrat sein sollten. Dies berichteten zwei Quellen aus den russischen Staatsmedien der "Moscow Times".
Ruhe mit Geld erkauft
Unterdessen versucht Putin die Unzufriedenheit im Land angesichts der großen Verluste im Zaun zu Halten. Mit einem bewährten Mittel: Geld. Am Dienstag unterschrieb er ein Dekret über "zusätzliche soziale Garantien für Militärangehörige". Demnach bekommen Hinterbliebene von Gefallenen einmalig fünf Millionen Rubel ausgezahlt. Denjenigen, die im Dienst an der Front verletztet werden, werden drei Millionen Rubel versprochen. Umgerechnet sind es etwa 65.000 bzw. 40.000 Euro – für die meisten Russen sind das Summen, die sie nicht einmal innerhalb von 15 Jahren verdienen könnten.
Als Putin vor 22 Jahren an die Macht kam und der Untergang des U-Boots "Kursk" zur ersten Krise seiner Regierung wurde, gelang es ihm durch Geldzahlungen die Hinterbliebenen der verstorbenen Seemänner ruhigzustellen. Doch damals waren es 118 Matrosen, die ums Leben kamen. Heute schätzen westliche Geheimdienste die russischen Verluste in der Ukraine längst auf 100.000. Auch wenn der Kreml beharrlich über die Verluste schweigt und es den Staatsmedien verboten ist, die Thematik auch nur anzuschneiden, geheim halten lassen sich so viele Tote nicht lange. Denn die Särge und Überreste kommen zunehmend in den russischen Dörfern an. Auch wenn die meisten Toten nie den Weg in ihre Heimat finden werden.
Von der Motte zu Putin, dem Ewigen – der blutige Weg des Kreml-Herrn in Bildern

Geldzahlungen sollen die Hinterbliebenen über den Verlust hinwegtrösten. Im Staatsfernsehen flimmern regelmäßig Beiträge, die von den Auszahlungen künden. Berühmt berüchtigt ist mittlerweile eine Reportage aus der russischen Provinz über eine Familie, die für das Geld, das sie für ihren toten Sohn erhalten har, ein Auto der Marke Lada gekauft hat. (Hier können sie den Beitrag des Senders Rossija 1 in voller Länge sehen.) Sein Sohn habe schon immer von einem weißen Lada geträumt, erzählt der Vater in die Kamera und präsentiert stolz den Wagen. Die Pointe, dass der junge Mann sterben musste, damit sich die Familie den Traum von einem Auto erfüllen konnte, entgeht der Propaganda wie so oft.
Doch Beiträge dieser Art halten die Hoffnung vieler am Leben, dass auch sie in den Genuss solcher Summen kommen werden. Dass die versprochenen Gelder längst nicht alle erreichen, verrät die Propaganda ungewollt selbst. Weil die lokalen Abgeordneten und Gouverneure sich mit vermeintlich guten Taten profilieren wollen. Wie in diesem Beitrag, in dem die Hinterbliebenen von gefallenen Soldaten in der von Putin als russisch deklarierten Republik Donezk einen Sack mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln in die Hände gedrückt bekommen.
Auch hier entgeht der Propaganda wohl die Morbidität des Ganzen: Die Witwen bekommen schwarze Plastiksäcke ausgehändigt – in genau solchen Säcken kommen sonst die Überreste der Gefallenen zurück zu ihren Familien. Der Ort des Geschehens setzt der Szene die Krone auf: Makijiwka. Dort, wo am Silvesterabend Hunderte Mobilisierte gestorben sind, während Putin Russland auf ein weiteres Jahr Krieg einstimmte.
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