Der konservative Flügel der SPD-Bundestagsfraktion will die politischen Beziehungen zur Türkei intensivieren und weiterentwickeln, um das deutsch-türkische Verhältnis für eine Zeit nach Erdogan zu stärken. "Die Türkei ist ein wichtiges Partnerland und sollte dies auch bleiben", heißt es in einem Strategiepapier des Seeheimer Kreises, das dem stern vorliegt. "Die Türkei ist nicht Recep Tayyip Erdogan."
Die Seeheimer bringen schnellere Visa-Verfahren ins Spiel, ebenso eine Ausweitung der Zollunion, etwa auf Agrarerzeugnisse oder Dienstleistungen. Davon könnten sowohl die Türkei als auch Europa profitieren. Auch an der EU-Beitrittsperspektive für die Türkei solle festgehalten werden, wenngleich diese etwa mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit "realistisch auf Jahrzehnte" angelegt sei.
Es dürfe jedoch kein zu starkes Entgegenkommen "ohne verlässliche Zeichen des Wandels" geben, fordern die SPD-Politiker. Die "Pfunde", die man in der Hand halte, sollte man nicht an Erdogan aushändigen. Insbesondere Visumsfreiheit sei etwas, "wonach die Türkei dürstet". Zunächst müssten innere Strukturen – genannt werden Korruption, Rechtsstaatlichkeit oder Pressefreiheit – "vom Kopf auf die Füße gestellt werden". Andernfalls könnten diese "Errungenschaften" Erdogan in seiner Position und "repressiven Kurs" noch bestärken.
Was die Visa betreffe, solle sich Deutschland dennoch bemühen, "dass die Verfahren nicht mehr ewig brauchen". Das diene auch dem Eigeninteresse, wenn es um Fach- und Arbeitskräfte gehe. Die heute regulären Verfahren würden sich ins Unermessliche ziehen und sowohl private als auch Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern belasten.
Der Seeheimer Kreis übt scharfe Kritik an der autokratischen und "unberechenbaren" Politik des türkischen Präsidenten, nicht zuletzt an seinen "inakzeptablen" Äußerungen zu Israel und der "Verharmlosung" des Hamas-Terrors. Gleichzeitig wird die wirtschaftliche und gesellschaftlichen Bedeutung des deutsch-türkischen Verhältnisses betont. Geostrategisch komme dem Land eine Schlüsselrolle zu, auch bei der Gewinnung von Fach- und Arbeitskräften oder in der Migrationspolitik sei die Türkei ein wichtiger Partnerstaat Deutschlands.
"Es ist zwar klar: Innerhalb der Ära Erdoğan wird das Land keinen tiefgreifenden Wandel mehr erleben", heißt es in dem acht DIN-A4-Seiten füllenden Positionspapier. Deutschland und Europa dürften diese Zeit aber nicht verstreichen lassen. Andernfalls könnte sich die Türkei andere Partner suchen, "die Europa Konkurrenz machen". Die Seeheimer fordern daher eine pragmatische und "zukunftsorientierte Türkeipolitik", die auch von einer "klaren, aber partnerschaftlichen Ansprache aller Kritikpunkte" geleitet sein müsse.
"Unberechenbarer Politik von Erdogan etwas entgegensetzen"
"Wir wollen unberechenbaren Politik von Erdogan etwas entgegensetzen und das deutsch-türkische Verhältnis für eine Zeit nach Erdogan stärken", sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete Macit Karaahmetoğlu dem stern. Das gehe nur mit einer klaren Haltung, ausreichend Pragmatismus und einer klaren strategischen Ausrichtung. Man müsse der Türkei "auf Augenhöhe" begegnen und sich nicht von den "impulsiven Ausbrüchen" Erdogans vom Pfad abbringen lassen, sagte Karaahmetoğlu, der stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe im Bundestag ist.

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Auch der SPD-Abgeordnete und frühere Regierende Bürgermeister Berlins Michael Müller wirbt für ein partnerschaftliches Verhältnis. "Die Türkei ist ein schwieriger Partner, hierbei nur den Präsidenten Erdogan zu sehen, wäre aber verkehrt", sagte er dem stern. Es müsse auf die jahrzehntelangen Beziehungen aufgebaut werden, "um gemeinsam auf die Krisen in der Welt reagieren zu können." Müller ist auch Mitglied der Deutsch-Türkischen Gesellschaft e.V., dessen Vorsitzender Karaahmetoğlu ist. Karaahmetoğlu hat das Papier maßgeblich geschrieben.
Kern des Strategiepapiers ist die Prämisse, dass die Türkei unter Erdogan ein zu wichtiger Partner ist, als dass man ihn ignorieren könnte. Im Ukraine-Krieg hatte türkische Präsident ein Abkommen vermittelt, das der Ukraine den Getreideexport über das Schwarze Meer ermöglichte. Erdogan könnte die Vereinbarung wiederbeleben, nachdem Aggressor Russland diese aufgekündigt hatte.
Auch im Nahost-Krieg wird dem Land eine wichtige Vermittlerrolle zugeschrieben. Die Türkei könnte ihren Einfluss in der Region etwa bei der Befreiung der durch die Hamas festgehaltenen Geiseln in Gaza geltend machen. Das dürfte auch die Hoffnung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz sein, die den türkischen Präsidenten am Freitag in Berlin empfingen.