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20 Jahre Mauerfall - ein Taxifahrer als Zeuge "Det letzte Mal war ick vor 28 Jahren hier"

Über Tintenpisser und Taxifahren für 80 Pfennig: Peter Dohm erzählt über sein Leben in Ost-Berlin und seinen Ausflug nach West-Berlin in der Nacht des Mauerfalls.
Von Harald Kaiser

"Det wird et bald nich mehr jeben", sagt Peter Dohm und deutet nach links auf mehrere große Betonhallen. Wir fahren in seinem Funktaxi Nr. 338 auf der breiten Leninallee in Ost-Berlin Richtung Stadtmitte.

"Dort drinnen, wa, lajern nur Möbel für die Bonzen", sagt er und hofft, dass es denen jetzt an den Kragen geht. Zum ersten Mal glaubt der 47-Jährige, "det nun allet anders wird". In der Nacht vom 9. auf 10. November ist er mit dabei, als sich Tausende aufmachen, um mal Westluft zu schnuppern. Zusammen mit seinem Nachbarn Horst Kunde und dessen Frau sind sie in Kundes Trabi gesprungen und losgefahren. "Wir saßen schon alle in Schlafanzügen vor dem Fernseher, als die Nachricht durchkam. Dann jing allet zack-zack", sagt Peter Dohm. Horst Kunde ist am Morgen danach immer noch bewegt: "Wir fühlten uns wie die Präsidenten, als wir an der Bornholmer Straße die Grenze passierten und uns die West-Berliner zuklatschten."

Die drei Ostler waren - natürlich - auf dem Ku'damm. "Die Leute schleppten uns in eene Kneipe und gaben gleich Biere aus. Dat hat nur fünf Minuten gedauert, dann haben wir die Dinger jezischt. Bei uns drüben täten wir heute noch am Tresen stehen und uff det Bier waaten", sagt Dohm. "Det letzte Mal war ick vor 28 Jahren hier." Um halb fünf morgens sind sie wieder daheim.

Der Kilometer Taxifahrt kostet 80 Pfennig

"Der doofe Honecker hat uns zujrundejerichtet", schimpft Dohm. Für 150 Mark West hat er sich Adidas-Turnschuhe in einem Ost-Berliner Spezialgeschäft für Westwaren gekauft. Bei dem Preis musste er lang überlegen, ob er sich das wirklich leisten kann. "Für een Kilo Räucheraal müssen wir da 70 Westmärker hinlegen, det hältste im Kopp nich aus." Er kapiert nicht, "warum der Erich allet so teuer jemacht hat". 1100 Mark verdient der Taxifahrer im Monat netto. "Ick fahr nur, weil ick in meinem eijentlichen Beruf viel weniger bekäme. Ick bin nämlich jelernter Trabrennfahrer", sagt er. An dem Sport hängt sein Herz. Doch da könnte er höchstens 800 Mark verdienen - als Spitzenfahrer, wie er früher einer in West-Berlin war. So knüppelt er in seinem Taxi Marke Wolga die Zeit runter. Achteinhalb Stunden. "Wer det Soll nich packt, wird schon mal versetzt, zum Beispiel in die Lackiererei."

Fast alle Taxen sind in einem Volkseigenen Betrieb (VEB) organisiert. In Ost-Berlin rund 700, dazu 200 private. Von 6 Uhr bis 22 Uhr kostet der Kilometer einheitlich 80 Pfennig, von 22 Uhr bis 6 Uhr eine Mark. Hinzu kommen 50 Pfennig Einstiegsgebühr pro Fahrgast. Eine Fernfahrt kostet eine Mark pro Kilometer, Rückfahrt inklusive.

"Mit dem Schund müssen wir arbeeten"

Doch bei der Abrechnung gibt es meist Probleme, weil das Taxameter nicht richtig funktioniert. "Det ist typisch", sagt Dohm, "die juten Sachen werden ins Ausland verkooft, Werkzeug zum Beispiel, mit dem Schund müssen wir arbeeten."

Den Wolga fährt Dohm zusammen mit einem Kollegen seit April. Seitdem hat der russische Wagen schon 70000 Kilometer runter. "Det Ding looft jut", sagt er. Weil er lange hält, viel länger als ein Lada, Skoda oder Trabi, heißt der Wolga in der DDR "Eisenschwein". Der Wagen wird mit Butangas angetrieben. "So wat ist umweltfreundlicher und billjer, vastehn Se?"Mehr als 140 km/h sind aus dem 2,5-Liter-Motor mit 108 PS nicht herauszuholen. An die 120 seiner Kollegen haben schon rübergemacht. Taxen fehlen an allen Ecken und Enden. Mit Stasi-Leuten sollen die Lücken gefüllt werden.

Ob er er auch weg will? "Icke schon", antwortet er, "aber mit meiner Frau jeht det nich. Sie is krank." Außerdem hat er ne Doppelhaushälfte in der Schwarzwurzelstraße 5, gut 100.000 Mark wert. Jeden freien Tag hat er daran gearbeitet, renoviert, angebaut. Urlaub gab's schon Jahre nicht mehr.

Wenn er die Bonzen sieht, die alles haben, die in Villen wohnen und mit ihren Dienst-Volvos oder -Citroëns an allen vorbeipreschen, denkt er immer: "Tintenpisser!" - die Autos sind dunkelblau lackiert. Er ist sauer auf das System, das ihn 40 Jahre eingesperrt hat. "Allet, wat wir wollen, is reisen und en bißken Geld ausgeben, wa." Und ein Westauto hätte er gerne, einen Golf C Diesel. Doch bei ihm reicht es nicht mal zum Trabi.

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