Abstimmungsmarathon Der Kanzler als König ohne Land?

Eines der umfassendsten Reformpakete in der deutschen Geschichte ist endgültig unter Dach und Fach. Im Regierungslager drängte der Stolz über die Teilerfolge bei der Agenda 2010 schnell die politische Arithmetik über die eigene Mehrheit in den Hintergrund.

"Eigene Mehrheit ist eigene Mehrheit und das gilt." SPD-Fraktionschef Franz Müntefering gab kurz nach Bekanntwerden des Abstimmungsergebnisses im Bundestag zu den schärferen Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose am Freitag die Devise für SPD und Grüne aus: 294 Ja-Stimmen aus dem Lager der Koalition seien mehr als 287 Ja-Stimmen von Union und Opposition.

"Mehrheit", dröhnte Außenminister Joschka Fischer über den Flur des Reichstages. "Wir haben die Mehrheit, das ist doch eindeutig", meinte auch der Jurist und Innenminister Otto Schily. Schröder fand die Rechnerei "klein kariert". Wenn man sich zusammentue, solle man nicht rechnen, sagte er. Die Menschen hätten gewonnen.

Abstimmung über Hartz-IV-Gesetz sorgt für Verwirrung

Die Abstimmung über das so genannte Hartz-IV-Gesetz war als einzige im Paket der zehn namentlichen Abstimmungen über den Reformkompromiss von Koalition und Opposition mit großer Spannung erwartet worden. Von SPD und Grünen war bekannt, dass mehrere Abgeordnete die Regelung nicht mittragen wollen.

Es ging um die Frage, ob Bundeskanzler Gerhard Schröder den Punkt mit den Stimmen von SPD und Grünen durch das Parlament bringt oder Oppositionsstimmen braucht. Immerhin hatte die Frage, zu welchen Löhnen Arbeitslosen künftig Jobs zugemutet werden können, in der SPD-Fraktion schon einmal für Streit gesorgt und dazu geführt, dass auf Druck der SPD-Linken der Regierungsvorschlag abgeschwächt wurde.

Dass schließlich jeweils sechs Abgeordnete von SPD und Grüne neben den beiden PDS-Parlamentarierinnen und zwei CDU-Abgeordneten mit Nein stimmten, wurde von Union und FPD als Beweis der fehlenden Handlungsfähigkeit von Schröder gewertet. "Der Bundeskanzler muss den Weg frei machen für einen Neuanfang", sagte FDP-Chef Guido Westerwelle. Schröder habe keine eigene Mehrheit mehr, deswegen sei es Zeit für Neuwahlen.

"Wir brauchen eine starke Regierung"

Unions-Fraktionsgeschäftsführer Volker Kauder schlug in die gleiche Kerbe. Das Beste wäre es, der Kanzler würde aus den Abstimmungsergebnissen die Konsequenzen ziehen. "Wir brauchen eine starke Regierung." Was wäre mit der Regierung, wenn alle Oppositionsabgeordneten dagegen gestimmt hätten, fragte CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer. Die Regierung sei auf die Opposition angewiesen, um handlungsfähig zu sein. Darüber solle sich Schröder mal über Weihnachten Gedanken machen, sinnierte Meyer vor dem Plenarsaal.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Auch die Finanzstaatssekretärin Barbara Hendricks, die angeblich die Eine-Milliarde-Panne im Vermittlungsausschuss fabriziert hatte, wollte an den Zahlen nicht rütteln. "Es haben aber nicht alle anderen mit Nein gestimmt", hielt sie trotzig Journalisten entgegen, die alle Stimmen der Opposition zusammen zählen wollten.

Merkel: Schwere Niederlage für Schröder

Für Kauder war die Sache klar: "Glauben sie der SPD nix bei Zahlen", riet er den Journalisten vor dem Plenarsaal, die mit seinem SPD-Gegenspieler, Wilhelm Schmidt, zusammenstanden. "Herr Schmidt, sie werden sehen, sie haben die Mehrheit nicht gehabt".

Oppositionsführerin Angela Merkel kommentierte sichtlich entspannt, das Ergebnis der Abstimmung sei eine schwere Niederlage für Schröder. "Das ist ein Schlag ins Gesicht der Agenda 2010", sagte sie. "Die Regierung ist nicht handlungsfähig." Insgesamt sei dies jedoch ein guter Tag für Deutschland. Die Opposition habe sich konstruktiv an den Reformen beteiligt und damit dem Land gedient.

Schröder würdigte den Beitrag der Opposition zum Reformpaket. "Die Agenda 2010 wird heute beschlossen", stellte er fast feierlich fest. Er habe nichts gegen die Darstellung, dass die Agenda viele Väter und Mütter bekommen habe. Es sei nicht wichtig, "wer etwas bewegt hat, sondern dass sich etwas bewegt hat".

Föderalismus als Hemmschuh

Allerdings verhehlte er nicht, dass sich der Weg über Bundestag, Bundesrat und Vermittlungsausschuss mit einem weiteren Reformprojekt nicht wiederholen müsse: In der Föderalismuskommission müssten die Strukturen überdacht werden. Sie seien zu kompliziert und erlaubten nicht die Dynamik, die die notwendigen Strukturreformen erforderten. Konkret nannte er Bildung und Ausbildung: Merkel bot daraufhin an, dazu "noch heute" Initiativen auf den Weg zu bringen.

DPA
Doris Berve-Schucht