Matthias Schulz hat am Sonntag AfD gewählt. Er hat darüber nicht lange nachdenken müssen. Er hat sich dafür nur in seinem eigenen Leben umgeschaut.
Draußen in der Bucht vor Ueckermünde dümpeln die Kormorane auf den sanften Wellen des Stettiner Haffs. So vollgefressen, dass sie mit ihrem Hintern kaum noch aus dem Wasser kommen. Drinnen in seinem kleinen Fischerboot liegt ein Teil seiner Netze, ungenutzt. Das Boot heißt "Hannes". Wie sein Sohn.
Es ist Mittag, die Sonne sticht vom Himmel. Schulz hat sein Tagwerk vollbracht. Seit fünf Uhr in der Früh ist er auf den Beinen, wie an fast jedem Tag in den vergangenen 25 Jahren. Nur manchmal, im Winter, wenn das Wasser kälter ist und der Fisch länger in den Netzen stehen kann, lässt er auch schon mal eine Tour aus.
Es ist nicht so, dass Matthias Schulz, 40, unzufrieden wäre mit seinem Leben. Es ist nur so, dass er das Gefühl hat, ihm werde zu viel reingequatscht in dieses Leben. Aus Berlin. Aus Brüssel. Von oben. Von Leuten, die von seinem Leben nichts verstehen. Die aber ständig alles verändern und es dadurch immer komplizierter machen.
Die fetten Kormorane werden immer fetter, seit sie unter Naturschutz stehen und keine natürlichen Feinde mehr haben. In Brüssel hat irgendwann mal irgendein EU-Bürokrat dekretiert, dass die Fischer nicht mehr mit unterschiedlichen Maschenweiten raus aufs Haff fahren dürfen. Und dann, natürlich, die Merkel!
Schulz fand die immer ganz sympathisch. Doch das ist vorbei. Weil die Merkel an den Russlandsanktionen festhält, obwohl der Putin die Krim doch niemals räumt, und weil auch deshalb die Preise in den Keller gegangen sind für all den Fisch aus dem Stettiner Haff. So ist das, mit der großen Politik und dem Leben von Matthias Schulz, hier oben in Ueckermünde, am kleinen Hafen, ganz am Ende des Kanalwegs, kurz vor Polen.
Am Sonntag hat er zwei Kreuze bei der AfD gemacht. Erststimme und Zweitstimme. Aus Protest. Matthias Schulz war der Ansicht, wenn die Politik sein Leben schon so sehr durcheinanderbringt, dann hat er alles Recht, die Politik wenigstens ein bisschen durcheinanderzubringen. "Damit die anderen mal wach werden."
Und dann?
"Weiß auch nicht", sagt Schulz.
Haben Sie das Programm gelesen?
"Nein."
Aber Sie glauben, dass durch die AfD etwas besser wird?
"Das glaube ich nicht."
"Man muss uns doch verstehen", sagt Hartmut Hoffmann, der ein paar Meter weiter an einer Fischerhütte lehnt. "Wir kämpfen hier ums Überleben. Dabei müssten wir nur raus aus der EU, dann könnten wir es hier wie in Dubai haben. So reich, wie unser Land ist."
Ein deutscher Mann. Ein deutscher Traum. Ein freies Land. Man wird das so doch noch sagen dürfen.
Hoffmann glaubt zu wissen, wie das Geld verschwendet wird. Wie es verteilt wird an die Falschen, an die, die ihm fremd sind, die, die Merkel zu Hunderttausenden ins Land geholt hat. "Die jungen Bengels in die Kasernen stecken", sagt Hoffmann, "ausbilden und zurück." Es könnte alles so einfach sein. Ist es aber nicht.
"Ich will ja bloß ein bisschen Druck machen", sagt Hoffmann, 55, seit 28 Jahren Fischer, dicke Brillengläser, braune Haut, kein brauner Geist, netter Kerl, kein Nazi. Seit der Wende hat er immer ein bisschen Druck gemacht, hat immer NPD gewählt. Da ist er sich treu. Nur diesmal ging das nicht, weil die NPD in ganz Mecklenburg-Vorpommern darauf verzichtet hat, Direktkandidaten für die Landtagswahl aufzustellen. Hoffmann musste splitten. Das fiel ihm nicht schwer. Seine Erststimme hat er deshalb Stephan Reuken gegeben, dem AfD-Kandidaten für den Wahlkreis 35, Vorpommern-Greifswald IV. Da war er nicht der Einzige.
Am vergangenen Sonntag feiert Stephan Reuken bei der Wahlparty der AfD, draußen auf dem Gelände des Restaurants "Schlossbucht 19". Von hier aus hat man einen fantastischen Blick auf das Schweriner Schloss – der Landtag hat dort seinen Sitz und Reuken bald seinen Arbeitsplatz. Er wird als einer von 18 Abgeordneten ins Parlament einziehen, das ist seit diesem Abend klar. Die Rechtspopulisten haben im deutschen Nordosten aus dem Stand 20,8 Prozent geholt. Reukens Erststimmenanteil liegt sogar bei 29,3 Prozent, es ist das drittbeste Einzelergebnis der AfD in ganz Mecklenburg-Vorpommern.
In Merkels Stammland liegt die Partei nun vor der CDU. Sie ist in den neunten Landtag in Folge eingezogen. In zehn Tagen wird das Abgeordnetenhaus in Berlin gewählt, dann wird sie in zehn Landesparlamenten sitzen. In gut einem Jahr ist Bundestagswahl. Und die Republik fragt sich: Wo soll das noch enden mit dem neuen deutschen Rechtspopulismus?
Dabei wäre die bessere Frage: Wie weit ist es schon gekommen?
Vielleicht sollte man sich weniger Sorgen um die Zukunft machen, mehr um die Gegenwart. Es ist ja gar nicht so sehr das Ergebnis, es ist die Art, wie Reuken es geschafft hat, dass fast jeder dritte Wähler ein Kreuz hinter seinem Namen gemacht hat. Er musste dafür nicht allzu viel tun.
Die Leute wählen AfD, weil egal wäre, wen sie sonst wählen
Es wird nun langsam Zeit, Stephan Reuken vorzustellen, das ist schnell gemacht: 31. Ledig. Kommt aus Gütersloh. Hat in Jena und Greifswald Geschichte und Politikwissenschaft studiert. Taucht und segelt gern. Seinem Teint nach muss er in diesem Sommer mehr getaucht sein als gesegelt. Reuken ist blass. So wirkt er auch. Muss man erwähnen, dass er in Jena in einer Burschenschaft war? Vielleicht. Auf den Wahlplakaten ist der Schmiss auf seiner linken Wange nicht zu sehen.
Und sonst? Es ist ihm "eine Herzensangelegenheit, nachfolgenden Generationen ein Land zu hinterlassen, das mit seinen Traditionen, regionalen Eigenheiten und Bürgern noch unzweifelhaft als Deutschland zu erkennen ist". Gut, das ist schon von der Homepage der AfD in Mecklenburg-Vorpommern. Aber für den Wahlkreis 35 war es offenbar genug.
Wenn man ihm gegenübersitzt, merkt man: Ein großer Rhetor ist Reuken nicht, im direkten Gespräch eher der Typ vorsichtiger Formulierer. Obwohl er sich aufrecht sitzend deutlich Mühe gibt und über den Antworten der Kaffee kalt wird. Vermutlich hat er recht, wenn er sagt: "Die Leute wählen AfD, weil es relativ egal wäre, wen sie sonst wählen würden."
So ist das wohl, und vielleicht sollte man aus der Wahl nicht zu viel ableiten. Ja, Mecklenburg-Vorpommern gehört zu Deutschland. Aber, nein, es ist nicht Deutschland. Es ist zu klein, um Projektionsfläche für die ganze Republik sein zu können. Nur zwei Prozent der deutschen Wahlbevölkerung wohnen hier, viele davon sind am Sonntag daheimgeblieben, im Wahlkreis 35 fast jeder Zweite. Viele desinteressiert, viele lethargisch. So mancher resigniert. Oder einfach vom Leben zu sehr gefordert, um auch noch Staatsbürger sein zu können. Wer nach Trends sucht, könnte sich verlaufen. Die Straßen mögen glatt geteert sein, aber die Seelen vieler Menschen haben Schlaglöcher.
Beinahe hätte Stephan Reuken den Wahlkreis sogar direkt für sich entschieden. Den ganzen Abend schaut er auf sein Handy, rechnet. Am Ende fehlen 296 Stimmen auf den SPD-Kandidaten Patrick Dahlemann, dafür hat er Andreas Texter deklassiert, den Lokalmatador von der CDU.
Ein paar Tage vor der Wahl. Andreas Texter sitzt in seinem kleinen Wahlkreisbüro in Ueckermünde und spricht davon, dass er "depri hoch fünf" wäre, wenn er gegen einen jungen AfDler verlöre, der sich so gut wie nie im Wahlkreis habe blicken lassen. Gegen einen Zugereisten. Ohne jegliche Heimatbindung.
Depri hoch fünf. Das ist eine Pointe. Die Politik ist deprimiert wegen der Menschen, die deprimiert von der Politik sind. Andreas Texter muss an dieser Stelle schwer atmen. Es ist, als ob sich der 56-Jährige in diesem Moment von mehr verabschieden müsste als seinem Landtagsmandat. Es ist auch der Abschied von der Vorstellung, dass Politik etwas mit Nachhaltigkeit zu tun hat, mit Präsenz, Engagement, Kontakten, Erfahrung. Früher war das mal so. Aber wie jetzt die AfD bei den Bürgerlichen wildert – das ist ein Kulturbruch.
Andreas Texter hat gekämpft. Wie immer. Aber da war diese doppelte Leere. Auf den Straßen und Plätzen seines dünn besiedelten Wahlkreises, wo er die Menschen nicht zu fassen gekriegt hat. Und in den Gesichtern derer, die grußlos an ihm vorbeigezogen sind. Er hat gespürt, dass sie AfD wählen werden, dass sie für ihn unerreichbar geworden sind.
Er hat diese Welle aus Politikverachtung, Unverständnis für die globalisierte Welt und Misstrauen gegenüber dem Establishment auf sich zurollen sehen. Aber wie hätte er diese Menschen noch erreichen sollen? "Man muss aufpassen, dass man nicht zu kompliziert wird" , sagt Texter, und es klingt ein bisschen, als säße er vor einem unlösbaren Rätsel. Politik ist manchmal kompliziert und schwer vermittelbar. Angela Merkel war eine Belastung, keine Frage. Und wie er auf die Schnelle erklären sollte, dass der CDU-Innenminister des Landes im Wahlkampf mehr Polizei versprach, nachdem der Mann in seinen zehn Amtsjahren für Einsparungen bei den Polizeidienststellen verantwortlich war? Texter zuckt mit den Achseln. Schwierig.
Im Wahlkreis 35 ist der Durchschnittsverdienst mit 13.000 Euro im Jahr pro Einwohner immer noch der niedrigste in ganz Mecklenburg-Vorpommern, das wiederum bundesweit Schlusslicht ist. Und doch – es gäbe Zeichen von Hoffnung, wenn man sie denn sehen wollte: Der jahrelange Abwanderungstrend ist gestoppt. In Ueckermünde werden langsam sogar die Bauplätze knapp. Dass die Bevölkerungszahl immer noch zurückgeht, liegt nur noch am demografischen Faktor. Es sterben einfach mehr Menschen als geboren werden.
Und doch war die AfD für die CDU nicht zu packen. Reuken auch nicht. "Der ist ja praktisch nie da", sagt Texter. Aber das stimmte eben nur halb. Denn bei Texters Fahrten durch seinen Wahlkreis, nach Mönkebude oder Eggesin, nach Torgelow oder Altwarp, da war das Konterfei des jungen AfD-Mannes immer da. An Zäunen, an Laternenpfählen. Auffallend oft war es in gleicher Höhe angebracht wie die Plakate der anderen Parteien. Wenn man so will: auf Augenhöhe. Nie so hoch wie die Wahlplakate der NPD, die immer weit oben festgemacht werden, damit sie nicht so leicht zerstört werden können.
Hat der CDU-Mann die Auseinandersetzung mit der AfD denn offensiv geführt? Texter schüttelt den Kopf. "Wenn ich die AfD schlechtrede und sage, das sind alles Rechtsradikale, dann ist das so, als ob ein Gastronom sagen würde: im anderen Restaurant ist das Essen schlecht. Das kommt nicht gut an." Texter schaut nun ein bisschen so, als ob er an diesem Mittag selbst schlecht gegessen hätte.
"Merkel hat Deutschland verseucht"
An einem Samstagvormittag im August steht Stephan Reuken auf dem pittoresken Marktplatz von Ueckermünde und bläst mit der Pressluftflasche Luftballons auf. Er hat Flyer verteilt, Plakate mit Kabelbindern an Zäunen befestigt – aber wenn er ehrlich ist, ist der Direktkontakt mit seinen Wählern eher spärlich gewesen. Die AfD solle doch am besten gar nicht mehr auftreten, hat ihm jemand geraten, dann gewinne sie garantiert. Doch ganz so virtuell will Reuken auch nicht in den Landtag surfen.
An diesem Tag hat er ein dunkelblaues Poloshirt an, links auf der Brust ist das Parteiemblem eingenäht. Er könnte auch Zeitschriftenabos verkaufen. Er sieht nicht aus wie ein Politiker. Hier bekommt er einen Eindruck davon, wie es in den Seelen seiner Wähler aussieht.
Einer liest nur noch die "Preußische Allgemeine Zeitung". Warum? Weil die anderen alle lügen.
Einer fragt, ob man das Buch "Umvolkung" gelesen habe?
Einer sagt: "Die Merkel hat Deutschland verseucht."
Seine Frau sagt: "Deutschland bricht zusammen."
Ein Ausschnitt, gewiss. Nicht repräsentativ. Aber auch nicht willkürlich. Es wird auf Claudia Roth geschimpft. Auf die rotgrüne Einheitssoße. Und darauf, dass sich deutsche Geschichte immer nur auf zwölf Jahre reduziert. Merkel kommt nicht gut weg, weil sie sich ihre Tagesbefehle am Telefon bei Obama abholt. Der Glaube an eine durch und durch fremdgesteuerte Welt ist erstaunlich stark ausgeprägt, hier oben in Deutsch-Nordost. Manchmal ist es dann nicht mehr weit zur Frage, wer denn eigentlich die Macht hat? Das Kapital natürlich. Und der Antisemitismus kriecht ganz beiläufig hoch.
Mancher hat in der DDR nichts vermisst
In Torgelow muss sich der AfD-Mann die Schimpftiraden einer alten Frau anhören, die am frühen Nachmittag in fellbesetzten Puschen als Einzige auf seinen Stand zusteuert. "Es ist eine Schande, in Deutschland leben zu müssen."
Deutschland rechts oben – es wirkt in weiten Teilen wie eine Region, die mit der neuen Zeit immer noch nicht zurechtkommt. Oder nicht mehr zurechtkommt. Oder einfach nicht zurechtkommen will.
In Altwarp trifft man an der Strandbude eine Frau, die in der DDR nichts vermisst hat. In Eggesin schmückt ein Mann, der mit dem System nicht zurechtkommt, seinen Zaun. Ein paar Hundert Meter weiter, in Krauses Asia-Imbiss, flüchtet die schwerstblondierte Verkäuferin hinter die Fritteuse – aus Angst, man könne ein Foto machen. Doch, es muss hier irgendwo auch Sozialdemokraten geben. Linke. Und ein paar versprengte Grüne. Anders ließe sich das Wahlergebnis nicht erklären. Aber man sieht sie nicht, nirgendwo.
Anklam, Volkshaus. Wenige Tage vor der Wahl spricht AfD-Chefin Frauke Petry vor voll besetztem Saal von der "Änderung des Zeitgeistes" . Sie sagt: "Das Wichtigste, das eine Demokratie hat, ist das Selbstbewusstsein des Bürgers, sich als einfacher Bürger eine Meinung zu leisten."
Am Sonntag, auf der Wahlparty, nimmt sie diesen Satz wieder auf. Petry ist beseelt. Ihre Gedanken sind schon bei der Bundestagswahl und dabei, was man den Bürgern nun schuldig sei. "Wir ziehen durch bis zum Herbst 2017."
Stephan Reuken muss derweil überlegen, ob er sich tatsächlich im Wahlkreis 35 niederlassen soll. Er hatte das eigentlich fest vor, aber so richtig ist das nun auch nicht mehr nötig.
Dieser Text erschien zuerst gedruckt im stern-Magazin Nr. 36.